Sounds of Science / Dr. Ruth Seliger - Systemische Beratung der Gesellschaft

Im Gespräch mit Carl-Auer Sounds of Science geht es um die Wege, wie man an frisches Denken herankommt, und darum, was trotz aller Krisen und leidigen Erfahrungen Hoffnung macht: Systemische Beratung der Gesellschaft - Strategien für die Transformation. Ruth Seliger geht es um nicht weniger als darum, wie wir die enormen Herausforderungen in Demokratie, Ökonomie und Ökologie in ihrer Vernetzung und ihren Wechselwirkungen neu verstehen lernen können, um sie mit systemischem Denk- und Handwerkszeug auch richtig anzugehen. Ideen nicht nur für Professionelle und systemisch Vorgebildete, sondern für alle, denen nicht gleichgültig ist, wie das Leben der Zukunft aussehen wird.


Dr. Ruth Seliger hatte bereits mit ihrem Dschungelbuch der Führung viele Beraterinnen und Berater sowie Personalverantwortliche in Organisationen nachhaltig beeindruckt und beeinflusst.



Ob im Auto, im Bett, in der Badewanne, mit der Maske im Bus oder im Zug, beim Warten am Bahnhof oder Flughafen, beim Einkauf oder vor der Bank, beim Joggen und Kochen alleine oder mit Partnern: Bleiben Sie wach, mit Carl-Auer Sounds of Science! Und, wo immer es geht, den freien Blick und den freien Geist nutzen: Carl-Auer Bücher lesen, Carl-Auer Wissen nutzen!


Transkription des Interviews


Ohler Liebe Ruth Seliger, hallo, ich grüße dich. Wir sind hier in Wien bei dir in den Praxisräumen.


Seliger Ja. Willkommen!


Ohler Danke schön. Sehr schön. Ich freue mich, dass du dir die Zeit nimmst, mit Carl-Auer Sounds of Science zu sprechen. Der Anlass ist ja dein neues Buch Systemische Beratung der Gesellschaft – Strategien für die Transformation. Wir haben vorhin schon gesprochen: Das richtige Buch zur richtigen Zeit, und es wird immer richtiger. Das kann man, glaube ich, ohne Übertreibung sagen. Du hast dich eines Themas angenommen, das dich schon lange umtreibt, wie man lesen kann, und sich aber doch wie von selbst deiner bemächtigt hat. So habe ich es zumindest verstanden. Aus der Frage, wie Organisation und Führung Veränderungen in der Gesellschaft verarbeiten, wurde die Frage danach, wie gerade auch Organisationen und Führung selbst Treiber der Veränderung sind. Deine Leitfrage ist: Wie können Organisationen dazu beitragen, die Gesellschaft zu verändern? Es gibt eine empirische Seite, so würde ich es jetzt mal nennen, und eine, die man vielleicht eine ethische nennen könnte. Wie geschieht es und wie sollte es vielleicht geschehen? Kann man es so sagen, dass es da zwei Seiten gibt?


Seliger Ja, also die Frage: Wie können Organisationen in die Gesellschaft wirken, und warum sind es Organisationen, die in die Gesellschaft wirken, und nicht der Einzelne oder die Einzelne? Das ist für mich eine spannende Frage, mit der ich mich schon sehr lange beschäftige. Die Frage: Welche Bedeutung haben Organisationen? Und sie sind ja, wie alle wissen – oder wie wir Systemker sagen – lokalisierte Kommunikation und insofern kraftvoller, zielgerichteter, wirkungsvoller als die Einzelperson, die mit anderen als Einzelpersonen in der Kommunikation ist. Also die organisierte Kommunikation ist ja eigentlich die Kraft von Organisationen und kann damit im Prinzip ein Gegenüber gesellschaftlicher Entwicklungen und Prozesse sein oder auch anderer gesellschaftliche Institutionen. Der Grundgedanke ist, dass die Gesellschaft selbst organisiert ist in Bereiche, in Institutionen, in unterschiedliche Organisationsformen. Und wenn du ein Gegenüber sein willst, musst du dich organisieren. Das ist eine starke These, die ich habe.


Ohler Es gibt da so ein paar Beispiele, wenn ich das kurz nebenher sagen darf, wo das nicht passiert ist und sich dann die Wirkung nicht entfaltet hat.


Seliger Naja, ich denke, wenn Organisationen einen Blick haben, der an der Grenze der Organisation aufhört, dann sehen sie den Zusammenhang nicht, in dem sie Wirkung erzielen, aber auch wo auf sie eingewirkt wird. Wenn sie sozusagen in ihrer eigenen Logik bleiben. Und das tun natürlich sehr viele Organisationen. Wenn ich auf die Seite der Unternehmen und Wirtschaftsunternehmen sehe, dann ist höchstens der Markt, die Lieferanten, eine relevante Umwelt. Im äußersten Fall noch Gesetze, die sich verändern, die auf Organisationen wirken, aber sonst sehen sie sehr oft nicht den Zusammenhang, wie sie die Bedingungen verändern, unter denen sie selber dann arbeiten müssen. Also für mich so ein gutes Beispiel sind die IT-Unternehmen, die die Welt unglaublich verändert haben und die sich jetzt selber in diesen neuen Bedingungen wieder neu organisieren müssen. Und das wird meistens nicht gesehen, wie diese Zusammenhänge sind und dass sie die Welt mitgestalten können und tatsächlich auch mitgestalten. Die Frage ist: Tun sie es zielgerichtet, tun sie es absichtsvoll, und tun sie es auch – sage ich mal – in einer aus meiner Sicht guten ethischen Art und Weise?


Ohler Da sind wir an dem Punkt. Man hört ja aus allem, was du sagst – und man kann es natürlich auch lesen –, dass du sehr lange Erfahrung als Organisationsberaterin hast, vielfältigster Art, du hast mit vielen Unternehmen und Organisationen gearbeitet. Du hast in deinem Buch, und auch sonst, zwei Prinzipien benannt, die für dich zentral sind für das, was du eine professionelle systemische Haltung nennst: Abstand zum Kundensystem halten und in Äquidistanz zu allen Personen, Strömungen und Zielen bleiben. Ich habe bei deiner Antwort vorhin herausgehört: Das wird ja wahrscheinlich ein bisschen schwierig, wenn es um Strategien gesellschaftlicher Transformation geht. Wie verhält es sich dann mit den Prinzipien?


Seliger Absolut. Ich denke, in dem Moment, wo wir über Gesellschaft nachdenken, sind wir in dieser Doppelperspektive, Mitglieder und Beobachter des Systems zu sein. Und man kann da nicht raus. Aus einer Gesellschaft kannst nicht mehr raus, bist immer Mitglied irgendwo. Und daher braucht es schon eine ganz besondere Art des also ich würde mal sagen – Saltos, den man macht, um in eine andere Perspektive auch zu kommen. Wobei ich denke, so fremd ist uns das nicht. Beobachtung zweiter Ordnung ist etwas, was wir kennen und in der Therapie und Beratung ist das ja eigentlich gang und gäbe. Es ist eine schwierige Übung, eine Dissoziation sozusagen, sich drinnen zu sehen und draußen zu sehen. Gleichzeitig. Aber das ist das Kunststück, und die, die das nicht schaffen, die versäumen tatsächlich auch die Chancen, etwas zu verändern. Also dieser Weg – ich hab das immer verglichen mit diesem Balkon bei der Muppets Show – diesen Gang da hinauf, den muss man schon können und sich bewusst sein, dass man drinnen und draußen ist, auf der Bühne und auf dem Balkon. Und das mit der Äquidistanz, das geht auch nicht mehr, wenn du Teil einer Gesellschaft bist. Und dieser Begriff der Neutralität ... – Österreich ist ja da ein Feld für diese auch immerwährende Diskussion, was es denn bedeutet. Es ist grade jetzt ganz wichtig, wie wir da tun wir in Bezug auf die Ukraine; da eiert unsere Politik ordentlich rum. Ich denke, als Mitglied einer Gesellschaft hast du immer eine Position, du bist nie neutral, irgendwo stehst du. Das wollte ich auch in meinem Buch tatsächlich deklarieren und offenlegen, wo ich stehe und dass ich keineswegs neutral diese Dinge wie vom Mars aus beobachte, sondern ich bin hier und ich habe eine Ansicht. Und ich bin nicht neutral. Ganz im Gegenteil. Ich will etwas, mit dem Buch wuch, ich will etwas gesellschaftlich.


Ohler Also man ist praktisch nicht unbeteiligt, sondern es geht darum, wie ich meine Beteiligung konzeptionalisiere. Wie kriege ich dafür einen Blick?


Seliger So ist es, ja.


Ohler Es kommt ja der Begriff Strategie vor. Und im Rahmen systemischen Denkens wird ein Konzept von Strategie ja wohl anders sein als so ein lineares oder operatives. Aber wie viel Operativität ist vielleicht doch drin? Und was ist eher Drift? Oder bin ich da sowieso beim falschen Bias?


Seliger Ich glaube, es ist beides. Ich glaube, man kann aus diesen alten linearen Strategielonzepten einiges nehmen, aber nicht alles. Aus meiner persönlichen Perspektive ist es halt immer ein Schleifenprozess, auf der einen Seite, und auch ein Suchprozess. Also Strategie ist immer auch Fahren auf Sicht. Und da hört sich´s dann auf mit der Linearität. Die traditionellen Verständnisse von Organisationen, von Strategien, die haben immer erstens eine Linie und zweitens ein Ziel. Das willst du irgendwo hinkommen, von A nach B, und Strategie heißt dann: Was sind die Mittel, was sind die Ressourcen, was sind die Schritte, was sind die Instrumente? Wie komme ich zu den relevanten Informationen? Und aus systemischer Sicht, aus meiner Perspektive, ist es immer: Etwas tun, innehalten, reflektieren, was man tut, Hypothesen bilden und Schlüsse ziehen. Und dann entscheiden wir die nächste Interventionsmöglichkeit, immer mit dem Wissen, dass das alles nur ein Versuch ist. Und das ist natürlich anders in Organisationen, wo du meistens relativ konkrete Ziele hast, die meistens mit Gewinn verbunden sind, oder zumindest mit einer Leistung, die erbracht werden soll. In der Gesellschaft haben wir das nicht, dass man sagt: Genau dahin müssen wir kommen. Daher ist ein Teil der Strategie auch die ständige Erfindung von Zielen, ein Teil davon. Und da merkt man, wie die Komplexität einen einholt ...


Ohler ... man sehr gern draußen, und dann merkt man plötzlich: Das geht nicht ...


Seliger... man wär gern draußen – man ist drinnen. Man möchte Strategie, aber muss eigentlich ständig die Ziele erfinden. Das ist immer, ja, komplex.


Ohler Wir kommen dann nachher noch auf dein Dreigestirn, wie ich es mal nennen will, auf diesen Analyse-Begriff. Wo auch der Versuch drin ist zu sagen: Du möchtest als Autorin auch viele Leute mitnehmen, nicht nur preaching to the saved. – Ein wichtiges Konzept scheint mir auch zu sein, was im systemischen Feld als Muster beschrieben wird, und von daher, was es heißt, wenn Muster sich ändern oder sich eben ändern sollen. Da gibt es die Unterscheidung von Musterveränderungen erster und zweiter Ordnung. Davon sprichst du. Was ist damit gemeint, und was ist das Besondere, wenn dazu – du hast es vorhin schon angedeutet – die Beobachtung berücksichtigt wird und die Selbstbeobachtung sozialer Systeme.


Seliger Das ist Veränderung. Das ist Musterveränderung zweiter Ordnung, dass sich der Beobachter reinrechnet in die Beobachtung. So verstehe ich den Heinz von Foerster, die zweite Kybernetik, dieses Sich-Hineinrechnen. Wie kommt es, dass ich diese Muster selber gestalte? Wie kann ich mir dabei zuschauen, wie ich die Muster schaffe? Und einfach formulierte Muster sind zunächst nichts anderes als eine Wiederholung von Prozessen, von Prozeduren. Und meistens sind die Muster irgendwie funktional, haben Sinn, und Veränderung ist dann notwendig, wenn sie nicht mehr nützlich, sinnvoll, funktionell sind. Und dann muss man sie ändern. Und für die Änderung ist es notwendig, dass ich auch ein Bild davon habe, wie es mir gelungen ist, diese dysfunktionalen Muster herzustellen. Das ist der Punkt aus der Organisationsberatung, und der ist aber in der gesellschaftlichen Veränderung auch notwendig. Daher dieses Buch. Es ist ein Versuch der Selbstbeobachtung und der Versuch zu schauen, wie haben wir diese gesellschaftlichen Muster, die wir eigentlich verändern wollen, auch ein Stück mitgeschaffen.


Ohler Das finde ich wirklich raffiniert. Also diese Frage zu stellen: Wie ist es uns gelungen, diese Muster, die wir jetzt als dysfunktional sehen, herzustellen?


Seliger Genau. Die entstehen nicht von selbst. Sie schauen dann irgendwann so aus, als wären sie von selbst entstanden. Irgendwann sieht man die Muster nicht mehr und bewegt sich nurmehr in ihnen. Man sieht sie gar nicht mehr, und es ist eine große Mühe, sie dann überhaupt wieder ins Bewusstsein zu bringen und sichtbar zu machen.


Ohler Das beantwortet eigentlich die Frage, die ich auch noch habe: Ist es das, was man dialektisch-systemisches Modell nennen könnte – ohne Leute zu verschrecken?


Seliger Na ja, da steckt eine andere Geschichte dahinter. Also ich bin ja wirklich leidenschaftliche Systemikerin, und daher fühle ich mich auch den Begriffen Kybernetik, Konstruktivismus und Systemtheorie sehr verbunden. Aber ich komme natürlich aus meiner eigenen Lebensgeschichte und hatte da noch andere Theoriekonzepte, die mir wichtig waren. Und da gehört die Dialektik dazu. Die ist aus irgendeinem Grund aus dem systemischen Sprachgebrauch und auch aus dieser Perspektive irgendwie verloren gegangen. Irgendwann habe ich mit Fritz Simon darüber gesprochen. Er hat gesagt, er weiß auch nicht genau warum. Also zumindest habe ich das so in Erinnerung. – Für mich ist das ein ganz wichtiger Begriff geblieben, weil ich denke, dass es, im Unterschied zu eigentlich fast allen Konzepten aus dem systemischen Denken, kein wirkliches Veränderungsmodell gibt. Das würde aber für mich die Dialektik schon sein. Also ein Konzept, ein Modell, das dir sagt, wie vor allem auch gesellschaftliche Veränderungen vor sich gehen, und dass sie getrieben sind von gesellschaftlichen Konflikten. Und dass, solang die Konflikte nicht sind, sich wenig verändert. Und die kybernetische Perspektive ist für mich eher eine Beschreibung eines Zustands. Also wenn ich den Watzlawick hernehme, seine kybernetischen Schleifen –sie kebbelt, weil er säuft, und er säuft, weil sie kebbelt –, das kannst du unendlich lang spielen, und irgendwann, wenn er zu viel säuft oder sie zu viel kebbelt, muss man sich das anschauen. Dann kommst du aber eher in eine stabilisierende Schleife hinein. Und wenn wir über Veränderung und über Strategien der Veränderung reden, genügt das nicht. Und da brauchst du einen anderen Begriff. Und deswegen habe ich meinen mein altes Lieblingsmodell über Veränderung wieder eingeführt. Es ist jetzt nicht original systemisch, aber ich kann ohne dieses dialektische Verständnis von Veränderung eigentlich auch nicht leben.


Ohler Ich glaube, das ist ein ziemlich großes Verdienst dieses Buches und deines Ansatzes, dass da wieder Denkwelten angestoßen werden, miteinander in Kontakt kommen und sich auch durchaus auseinandersetzen dürfen.


Seliger Also ich denke auch: in Kontakt kommen sollen! Weil ich davon überzeugt bin, es ist eine wirkliche Bereicherung. Und für den Begriff des Prozesses der Veränderung, da genügen mir diese systemischen Schleifen nicht mehr, weil sie nicht erklären, warum sich überhaupt was verändern soll. Dieses Denken in These, Antithese, Synthese, als in Gegensätzen, das kommt da nicht vor, ist mir aber wichtig.


Ohler Ist ja auch ein Thema. Da ist ein Riesenfass, das wir da jetzt aufmachen könnten, weil immer wieder in Diskussion ist: Gibt es so etwas wie eine systemtheoretisch orientierte Ethik oder nicht. Da gibt es klare Positionen. Die einen sagen: Nein, gibt es nicht her, die anderen sagen, es sollte es hergeben oder wir machen was anderes. – Du hast vorhin das Thema Konflikt angesprochen. Also Konflikte treiben da nicht erst seit zwei Jahren die gesellschaftliche Kommunikation erheblich. Und gerade in der aktuellen Zeit ¬– ich habe das vorhin wegen der Relevanz des Buches auch angesprochen – wieder mit Händen zu greifen. Was muss man denn, wenn man Konflikte im Kontext Gesellschaft verstehen will, beachten? Was bietet hier Systemtheorie an, und vielleicht darüber hinaus eben auch dialektisches Denken? Und was hilft jetzt beim Entwickeln von Strategien der Konfliktbearbeitung? Das ist eine große Frage natürlich, aber vielleicht ein paar Stichworte, den Rest kann man nachlesen.


Seliger Eine große Frage, ja. Über Konflikte habe ich ja nicht so viel geschrieben in dem Buch, halte es aber für ein ganz relevantes Thema natürlich, weil wir dauernd in Konflikt stecken. Aus meiner Sicht ist ein Konflikt zunächst ein Kommunikationssystem, das aber einige Besonderheiten und Spezifika aufweist. Und das ist so etwas, was ich mir irgendwann zurechtgelegt habe: Ein Konflikt braucht zwei Komponenten. Das eine ist, dass die Beteiligten voneinander abhängig sind oder denken, sie sind voneinander abhängig. Also sie sind verbunden in irgendeiner Weise, durch was auch immer. Das können reale Verbundenheiten sein, dass man miteinander in einem Raum ist. Das können aber auch gedachte Verbundenheiten sein, wie, dass man jemanden anderen braucht, um glücklich zu werden. Das sind gedankliche Konstrukte. Das ist das eine Element von Konflikten. Und das andere Element ist die Gegensätzlichkeit, dass man miteinander verbunden ist, aber etwas Unterschiedliches möchte. Dieser Zustand: Ich bin mit jemanden verbunden, kann nicht raus aus dieser Kommunikation, aber eigentlich wollen beide etwas völlig Verschiedenes und streben auseinander, so dass dieses Band, das sie verbindet, ständig strapaziert wird. Und das, finde ich, ist immer die Herkunftsgeschichte: Wo beginnen die Konflikte? Und sie beginnen oft in dieser Wahrnehmung von Unterschieden und auch in der Wahrnehmung: Man kann adem ber auch nicht aus. Wir erleben das jetzt in dieser Ukraine-Geschichte wirklich so. Also fast schon in einem Zerrbild, dass der "Westen", unter Anführungszeichen, bemerkt, dass er gar nicht auskann aus dem, was Putin tut und bemerkt, dass wir beginnen, das selber zu tun, dass wir in Dichotomien fallen, dass wir plötzlich Helden und Bösewichte haben, und Schuld und Sühne und Schuldzuweisungen. Also all das. Wir sind da plötzlich mitten drin und verbunden, und das gefällt uns überhaupt nicht, dass wir uns gerade mit Putin in einem sozusagen gesellschaftlichen Raum befinden, aus dem wir alle rauswollen. Putin möchte den Westen loswerden. Wir würden gerne Putin loswerden. Wir haben sehr unterschiedliche Perspektiven, sind aber in irgendeiner Weise durch alles Mögliche miteinander verbunden. Und ich denke, wenn wir über gesellschaftliche Konflikte nachdenken und uns auch anschauen, wie sie Treiber von Entwicklungen werden, dann muss man auf diese Dinge hinschauen. Der Kampf ist nur eine Spielform. Also der Krieg ist jetzt nur ein Ausdruck dieser Konflikte. Wenn einem gar nichts mehr einfällt, dann verfällt man in Gewalt. Ich halte viel von Friedrich Glasls Eskalations-Modell. Wir seien jetzt ganz hoch oben, da geht es nicht mehr weiter, wo wir jetzt mit der Ukraine sind: Gemeinsam in den Untergang. Aber es fängt viel früher an. Und ich denke, gesellschaftliche Veränderungen im Zusammenhang mit Konflikt heißen, dass wir Unterschiede und der Verbundenheit thematisieren müssen, um nicht denken, wir seien nicht verbunden oder denken, wir haben keine Unterschiede. Diese Harmonie-Geschichten sind furchtbar. Also "wir wollen uns alle lieb haben" ist genauso verblödet wie "wir haben miteinander überhaupt nichts zu tun". So wie ich das vorhin, im Vorgespräch, von dem Unternehmer erzählt habe, der sagt: "Die Wirtschaft ist die Wirtschaft, die Politik ist die Politik, hat miteinander nichts zu tun." Das ist genauso unsinnig wie die Harmonie-Geschichte. Das ist jetzt im Buch nicht ausgeführt, aber das sind jetzt so meine Gedanken auf deine Frage.


Ohler Ich meine, es steckt drin. Wo immer es dann ausgeführt, mit welchen Begriffen und Analysemustern, so nenne ich es mal. Also du gehst von Problemfeldern aus, wie du das nennst: Ökonomie, Ökologie, Demokratie. Als Probleme jeder Gesellschaft, habe ich das richtig verstanden?


Seliger Das war nicht immer so. Okay, es gibt auch vordemokratische Gesellschaften. Da war das kein Problem: Demokratie. Wir stehen heute davor. Ich muss, einfach der Ehre halber, zeigen, wo ich das her hab. Ich habe es im Buch auch ausgeführt. Also unser aktueller Herr Vizekanzler, Werner Kogler, hat das einmal in einem Interview nach einer Wahl gesagt, mit so einem Brustton der Überzeugung: Wir stehen heute als Gesellschaft vor diesen drei großen Themen Ökonomie, Ökologie, Demokratie. Und ich habe mir gedacht, das ist einfach sehr, sehr klug. Und ich habe das einfach übernommen, weil ich es eine kluge Differenzierung finde. Wahrscheinlich haben wir noch andere Probleme heute – IT, die Digitalisierung, und was auch immer noch. Aber diese drei großen Felder finde ich für unsere Zukunft relevant. Also wenn wir das nicht schaffen, dann ...


Ohler ... die auch ineinanderlaufen, sozusagen ...


Seliger ... die laufen ineinander. ...


Ohler Man muss sie irgendwie sortieren. Du hast da ganz viele Konzepte und auch Bilder und sehr spannende Situationen. Das ist wie ein Kompass, der einem einfach hilft, die Orientierung zu behalten, im wahrsten Sinne des Wortes.


Seliger Es sind getrennte Themen, aber sie sind verbunden miteinander, und vor allem in Abhängigkeit voneinander. Die Klimakrise ist ohne neoliberale Wirtschaftsformen nicht denkbar, die wäre nicht – wahrscheinlich. Die Demokratiekrise, die wir jetzt erleben durch zunehmende rechte Autokraten, die da jetzt das Sagen haben in der Welt – die Demokratie wird mit diesen Fragen nicht fertig ist; sie ist keine effiziente gesellschaftliche Form, wie diese Probleme bewältigt werden können, und das macht es auch krisenhaft, nicht. So hängen die zusammen.


Ohler Ich habe das vorgehabt, zur Frage zu machen. Du hast aber schon selber angedeutet: Demokratische Verfassungen, oder so verfasste Gesellschaften oder politische Organisationen, und autokratische, die aber eben auch mit diesem Problemfeld Ökonomie, Ökologie und vielleicht auch ihrer eigenen Form, damit umzugehen, zu tun haben. – Was macht uns Mut?


Seliger Na ja, es gibt schon vieles hier in diesen multiplen Krisen, und da rede ich gar nicht mehr von Corona oder so; das beschäftigt uns auch nebenher ... Na, was macht Mut? Mir machen viele Dinge Mut. Das eine ist: Wenn man hinsieht, dann werden an vielen Stellen alle diese Themen, die jetzt gerade zum Mainstream gehören und gleichzeitig so destruktiv sind, derzeit gebrochen durch Menschen, die sich organisieren und die neues, anderes versuchen. Und ich denke, die Wahrheit bricht an einem Punkt, nämlich wenn etwas anderes plötzlich da ist. Also "die Erde ist flach" musste brechen mit dem ersten Menschen, der durch diese Straße von Gibraltar mit dem Schiff gefahren ist und nicht runter gefallen ist auf der anderen Seite. Damit bricht ein ganzes Bild. Und heute haben wir so eine Hegemonie von dieser neoliberalen Ökonomie. Und jeder Versuch, es anders zu tun, bricht mit dieser Wahrheit und mit "there is no alternative" – Margaret Thatcher. Das bricht mit diesem Universalanspruch. Alles, was hier ausprobiert wird und gut funktioniert: von der Kreislaufwirtschaft, oder es gibt diese Arche Noah, die diese Ursamen sammelt, damit nicht alles durch Pestizide und chemische Düngemittel sozusagen zugrunde geht. Also es gibt so viele, die so dagegenhalten. Slow Food. Viele, viele. Die machen mir Mut. Natürlich auch die Kommunikationsmöglichkeiten, die es gibt. Also wir haben jetzt Internet und wir haben Social Media. Die werden immer bekannter dadurch auch. Und das ist eine Hoffnung. Die Digitalisierung hat auch ihre guten Seiten. Und es gibt natürlich auch bei der Umweltfrage vor allem eine Jugend, die mitbekommt, dass sie völlig verarscht wird und deren Zukunft einfach geklaut wird. Und was mir daran noch besonderen Mut macht, ist, dass gerade diese Jungen – Fridays for Future oder wie immer sie heißen – nicht nur auf die Straße gehen und schreien, sondern, wenn man mit denen spricht, dass sie dermaßen kompetente und auch wissenschaftlich gebildete und auch rhetorisch unglaublich gute Menschen haben. Ja, ich war auch politisch aktiv in meiner Jugend, aber das hatte ich nicht drauf. Die geben mir wirklich Hoffnung, weil da plötzlich eine andere Art von Weltsicht deutlich sichtbar wird, die weit über dieses "Wir wollen den CO2-Ausstoß reduzieren" hinausgeht. Ich würde behaupten, die denken wirklich systemisch.


Ohler Das klingt sehr ermutigend ...


Seliger Das ist wirklich ermutigend. Also ich weiß nicht, ob die das so benennen würden. Wahrscheinlich nicht. Aber deren Denken in den größeren Zusammenhängen, in den großen Bildern und in den Wirkungen, das würde ich mal als systemisches Denken bezeichnen.


Ohler Du hast ja vorhin, als wir im Vorgespräch waren – das kann ich jetzt einmal aufnehmen – auch mal gesagt: Es kommt nicht darauf an, ob man das jetzt systemisch nennt oder nicht – oder Leute dahin erzieht, das jetzt so zu nennen – sondern es geht darum: Wie wird gedacht? So auch mit dem Ziel des Buches, sich nicht nur an Systemikerinnen und Systemiker zu richten. Also wie ich vorhin sagte "preaching to the saved", sondern darüber hinaus ...


Seliger Vor dem Hintergrund meiner Beratungserfahrung mit meinen Kunden – also Unternehmer oder Institutionen oder die Menschen, die sie vertreten: Die mussten nicht einmal das Wort hören: "systemisch". Aber wenn es gelingt, durch Fragen, die man stellt, oder Perspektiven, die man auftut, das größere Bild zu zeichnen, lineare Modelle in Frage zu stellen und bessere Modelle zu haben, die wirkungsvoller sind und funktioneller, hilfreicher, wirkungsvoller, dann lernen sie auch, dass das der bessere Weg ist. Sie müssen das nie gehört haben. Wichtig ist, dass sie aber schon lernen: Das ist eine andere Art des Denkens. Sonst können sie es nicht wiederholen. Sonst würden sie sagen: "Das war eine tolle Beraterin, und jetzt macht wir wieder weiter wie vorher. Aber besser. ..."


Ohler Das sind wir am Punkt Organisationsberatung und Politikberatung. Vielleicht so ein, zwei Hinweise: Was glaubst du, welche unverzichtbaren Kompetenzen – du hast es ja schon durchscheinen lassen – braucht's, um wirklich eine professionelle Perspektive für gute (systemische) Beratung der Gesellschaft zu leisten und für Strategien der Transformatio? Jetzt wirklich für Profis, die da auch irgendwie versuchen, sich zu organisieren oder Organisationen zu begleiten, wenn sie das machen. Auch ein großes Fass natürlich, aber ...


Seliger Ich denke, es führt für uns wahrscheinlich kein Weg daran vorbei, dass wir unser Denken bewusst ändern müssen. Ich glaube schon, dass, wer sich vor diese unfassbare Aufgabe stellt, die wirklich an Übertreibung gar nichts zu wünschen übrig lässt, dass wir für diese Art der Weltenrettung ein anderes Weltbild brauchen. Wir brauchen ein Bild, wie die Welt funktioniert. Und jetzt weiß ich, dass wir diesem Verständnis der Welt nicht mehr mit dem alten Denken, mit dem linearen Denken, mit dem technischen Denken beikommen. Also diese Art des Denkens und der Welterklärung, die funktioniert heute nicht mehr. Es ist zu komplex geworden. Diese einfachen Erklärungen – sie sind ja nicht einmal einfach gewesen – aber so das Herangehen, dass, wenn wir einzelne Elemente nur gut genug analysieren und verstehen, also noch mehr in die Tiefe forschen, dann verstehen wir die Welt; wenn wir bis ins Atom hinein verstanden haben, wie ein Atom, und was dann immer damit zusammenhängt, funktioniert. Das geht nicht mehr. Also damit sind wir gescheitert, oder scheitern. Also ob man die Welt überhaupt verstehen kann, weiß ich nicht. Aber wenn uns ein Bild machen wollen, da hat jemand hat das einmal schön verglichen. Der hat gesagt: Das ist so, wie wenn man sich den Wald erklären wollte, indem man einen Baum analysiert. iese Philipp Blom war das. Und das ist, so glaube ich, ein Bild dafür wird: Das können wir nicht mehr. Aber das ist jahrhundertelang versucht worden. Wenn wir nur den Baum bis in seine letzten Spitzen und Blätter und Wurzeln hinein verstehen, haben wir ein Bild vom Wald. Muss man nur hoch hochrechnen. Das greift nicht mehr. Damit kommen wir nicht mehr weiter. Wir müssen diese Komplexität, die wir geschaffen haben, irgendwie anders einfangen. Und was auch nicht mehr funktioniert. Einen Gedanken habe ich von Dirk Baecker, mit dem ich das mal so besprochen habe: Was der größte Unterschied zwischen alten Gesellschaften und jetzt? Und er hat gesagt: Die Idee der Aufklärung ist zu Ende. Wir können nicht mehr mit reiner Vernunft und Logik die Welt versuchen zu verstehen. Auch das geht nicht, weil wir in Zirkeln und in Wechselwirkungen und kybernetischen Kreisen uns befinden – Komplexität eben – und weder Vernunft noch Linearität uns da weiterhelfen. Und insofern, wer immer die Welt verändern will, muss sich ein Bild von ihr machen, und das Bild kann meiner Meinung nach nur ein systemisches Bild sein. Zumindest, solange wir nichts anderes haben.


Ohler Das wäre jetzt eigentlich ein super Schlusssatz. Wir sind auch am Ende unserer Gesprächszeit eigentlich. Aber ich will dir trotzdem die typische Sounds-of-Science-Frage stellen: Gab es irgendwas, wo du gedacht hast, das thematisieren wir bestimmt? Sicher einiges. Und es kam dann es nicht Oder ist er auf dem Weg noch etwas eingefallen? Das liegt jetzt neben irgendwo ....


Seliger ... was du mich nicht gefragt hast?


Ohler was ich nicht gefragt hab


Seliger ... oder was ich gern gefragt worden wäre ...


Ohler ... genau. Oder was jetzt noch en passant liegt. Vielleicht auch noch ein Statement. Wenn nicht, besprechen wir es das nächste Mal ...


Seliger Also ich habe das Gefühl, die wichtigen Dinge habe ich schon gesagt. Diese Mischung: Es ist ein Denken und die Art des Denkens, wie wir die Welt verstehen, aber auch die Art der Bilder, die wir über Veränderung haben – das ist für mich die Quintessenz eigentlich. Es ist das Denken, und auch ein Bild von Strategie, Bild von Veränderung. Und das ist alles voneinander abhängig oder hängt zusammen. Das ist eigentlich der Kern des Buches. Gleichzeitig ist es ein Versuch. Vielleicht ist mir das noch wichtig, am Ende zu sagen: Dieses Buch enthält nichts Neues, es ist nichts Neues drinnen, alles ist schon gesagt und gedacht worden. Ich glaube, meine Leistung in dem Buch liegt darin, es zusammen gebracht zu haben, in eine Verbindung gebracht zu haben, und – auch das wäre meine große Hoffnung – es verständlich für nicht Systemiker gemacht zu haben. Also mein Wunsch wäre, dass das Leute lesen, die noch nie systemisch gedacht haben oder die Theorie nicht kennen. Es muss nicht jeder Luhmann gelesen haben, der sich für die Welt engagiert, für die Entwicklung und Veränderung der Welt engagiert. Das ist mir ganz wichtig. Ich habe das Buch geschrieben mit dem Wunsch, eine Art Selbstbedienungsladen hier aufzutun, mit dem Bild: Wer immer sich mit diesem Thema beschäftigt, dass man in der Welt etwas verändern muss – und zwar durchaus in eine Richtung des guten Lebens für alle oder die Zukunft oder was auch immer hier jetzt die Zielbilder sind – wer immer das tut, soll sich nehmen, was ihm oder ihr hilft und nützlich ist. Also da habe ich einen ganz pragmatischen Zugang. Nehmt euch, was ihr wollt, was ihr braucht. Es gibt eine unglaublich lange Literaturliste, sozusagen Appetithappen; wenn man da mehr hineinschauen will, kann man sich da an der Literaturliste entlangarbeiten. Also das ist sozusagen der andere Teil von der Theorie: Ich möchte, dass das Buch wirksam wird.


Ohler Damit hast du meinen Widerspruch vom Anfang gekappt. Wunderbar, ich danke dir sehr für dieses Gespräch, ich habe es sehr genossen.


Seliger Es hat mir auch Freude gemacht. Danke!