Lebensrechtsfragen

Hoya

Ich besitze, ich habe, bei mir steht, ich pflege, ich hüte, ich spreche mit, ich staune über eine Wachsblume, auch Hoya genannt, eine Zimmerpflanze aus früheren Zeiten. Sie kann ganz schnell einen 1-2m langen Troom vorerst ohne Blätter machen (Schweizer Dialekt; auf griechisch bedeutet -drom so was wie Weg, Bahn; wie Hippodrom, Velodrom; auf Berndeutsch ist Troom ein Fadenende). Dieser lange dünne blattlose Ausleger bewegt sich meist kreisend, sucht rund um sich herum etwas, woran er sich festmachen kann. Dabei ist er sehr wählerisch, gibt sich nicht mit der erstbesten Möglichkeit zufrieden. Notfalls klemmt er sich hinter einen Bilderrahmen, umwickelt einen Nagel oder stemmt sich an eine Wand. Dieses Suchen kann Wochen dauern. Wenn es erfolgreich ist, wachsen feste glänzende dunkelgrüne Blätter. Und wenn es der Hoya sehr gut gefällt, macht sie tropische weisse Blüten, dickfleischig, wächsern, innen mit rötlichen Stempeln, schwer duftend und klebrig tropfend.
Die Hoya kann in Wohnungen lästig sein, sehr weit über viele Meter wachsen, ganze Büchergestelle zumachen, aber sie kann auch kümmern und verschnupft sein. Zum Beispiel nach dem Umzug vor bald fünf Jahren Da ging nachher einfach nichts mehr, vielleicht mal ein einzelnes Blatt irgendwo, aber sonst keine Regung. Ein Häufchen Elend. Erst jetzt wieder nach einem weiteren Umzug findet sie, es könnte sich lohnen, Neues zu erkunden. Vielleicht spürt sie, dass ich da ev. länger bleibe als letztes Mal? Jedenfalls fasziniert mich diese Hoya, weil sie nicht nur so autopoietisch eigenwillig und erfinderisch einfach wächst, sondern sich sympoietisch mit anderen Gegenständen in Verbindung setzt, sie aufsucht, auswählt, in Kontakt geht, in einem Kontext steht.


Welche Pflanze, welcher Baum hat nicht auch Eigenarten? Wenn wir nur genau hinschauen, sehen wir Vorlieben, Geschichten, brutale Erfahrungen, Überlebensstrategien, prächtige Entwicklungen, Lebensfreude. Und seit wir wissen, dass Pflanzen komplex kommunizieren, mit Düften oder unterirdisch über Wurzeln und Pilzmyzel, dass sie sich vergesellschaften mit anderen Lebewesen, wie können wir da nur "Menschenrechte" aufsetzen, zuerst nur für die weissen Männer, dann auch für Frauen und Kinder, universeller für Menschen die sogar anders aussehen als wir Europäer, bald vielleicht für Primaten, "Nutztiere", "Haustiere" und irgendwann vielleicht auch einfach als Lebensrechte für die Fische, Insekten, Bäume, Pflanzen, Pilze, Algen oder Korallen?
Weshalb sollen ausgerechnet wir berechtigt sein, solche Rechte zu vergeben, gönnerhaft zu "schenken"? Haben nicht alle Lebewesen sowieso das Recht zu leben? Wann eigentlich und weshalb hat die Evolution diesen Sprung gemacht von den einfachen DNS-Strukturen zu fressenden Lebewesen mit verdauenden Mägen? Als Kind war mir die Welt mit dem Wolf und den 7 Geisslein schon gefährlich genug. Dann aber kam in der Schule noch der Sonnentau: Eine Pflanze, die Insekten fängt und vertilgt! Und heute schaue ich Dokfilme über Bienen- oder Ameisenvölker, die als Sammler friedlich existieren und andere, die von Raubzügen leben.


Immerhin verstehe ich heute den tieferen Sinn des Tischgebets vor dem Essen etwas besser: Als eine religiös verbrämte Bitte um Entschuldigung, dass wir Menschen nur überleben können, weil wir andere Lebewesen umbringen und verdauen. Was für eine unendliche und nicht lösbare Verstrickung. Davon wussten die Dinosaurier nichts und wohl auch nicht die Orca. Wir Menschen haben über die Religion die Möglichkeit geschaffen, ohne Schuldgefühle mit einem guten Gewissen zu leben indem wir die Erlaubnis haben, uns die Welt untertan zu machen.
Unsere Abhängigkeit lässt sich nicht ändern. Aber wir können für mein Empfinden zumindest soweit Verantwortung wahrnehmen, indem wir nicht böswillig und grobfahrlässig handeln, die Natur und Lebewesen um uns sorgfältig und achtungsvoll "nutzen", uns einsetzen für das Wasser, den Boden oder die Luft und uns einsetzen für bessere Arbeitsbedingungen von Menschen, die heute noch mit ungenügenden Löhnen, als Abhängige, moderne Sklaven oder Gefangene für andere sich abrackern müssen.


Liebe Hoya, wenn ich nach zwei Wochen wieder nach Hause zurückkomme, werde ich als erstes schauen, wie du dich nun entschieden hast. Ob du an dieser glatten Wand aufgegeben hast, ob du deinen zweiten Drom wie den ersten am gleichen Ort wieder hinter dem Bild platzierst, ob du dich auf den ersten stützt oder dich um ihn wickelst, daraus die Grundlage für ein stabiles Gerüst baust. Ich werde mich vielleicht einmischen und mir erlauben, dir allenfalls eine bessere Möglichkeit anzubieten, die dem Bild und der Wand dahinter weniger schadet. Und ich werde nicht mehr davon reden, dass du mir gehörst, sondern dass wir da zusammen wohnen.


 


Hoya-Pflanzen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Wachsblumen_(Hoya)


Fleischfressende Pflanzen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Fleischfressende_Pflanzen


Pflanzenkommunikation:
https://www.pflanzenforschung.de/de/pflanzenwissen/journal/pflanzen-im-dialog-pflanzensprache-fuer-fortgeschritten-10192


Wortbedeutung -drom
https://www.wortbedeutung.info/-drom/


Wortbedeutung Trom
http://www.edimuster.ch/baernduetsch/woerterbuechli.htm


Buch Moses, Kap. 1, sechster Tag:
Macht die Erde untertan
https://www.bibel-online.net/buch/schlachter_1951/1_mose/1/


Sammler und Jäger, Schuld und Unschuld
Hans-Peter Hufenus (2021): Urmensch, Feuer, Kochen. Aarau & München: AT Verlag.


Sklaverei früher und heute
https://www.humanrights.ch/de/ipf/archiv/international/nachrichten/moderne-formen-sklaverei


Raub und Totschlag (exemplarisch)
https://www.deutschlandfunkkultur.de/goetz-aly-das-prachtboot-ein-diebstahl-unter-vielen.1270.de.html?dram:article_id=497438


Kolonialismus (auch die Schweiz)
https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/026457/2008-10-28/


 


Jürg Brühlmann
Jürg Brühlmann

arbeitet als Berater von Organisationen insbesondere zum Thema Arbeitsgesundheit sowie zu Ausbildungsmethoden während der Arbeit mit Menschen in personenbezogenen Berufen. Naturbelassene Landschaften und Orte ermöglichen ihm mehr sinnliche Verbundenheit mit dem Leben und verschiedenen Zeiten in Momenten, Tagen, Jahren, Jahrhunderten...).




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.