Tragetaschentheorie

Von Tragetaschen, Fadenspielen und anderen Geschichten


„Ein Buch fasst Wörter. Wörter fassen Dinge. Sie tragen Bedeutungen. Ein Roman ist ein Medizinbündel, das Dinge in einem ganz bestimmten, wirkmächtigen Verhältnis zueinander und zu uns stehen fasst.“ 1


Dieses Zitat von Ursula K. Le Guin hat sich aufgedrängt, als ich das Buch „Natur-Dialoge“2 gelesen hatte. Ich war sehr angetan von der erzählerischen Qualität, mit der die Erfahrungen und Gedanken vermittelt werden, die in dem Buch gesammelt sind. Deshalb passen die Worte von Le Guin gut dazu, auch wenn „Natur-Dialoge“ kein Roman ist. Wie das Zitat zu mir gekommen ist, hat wiederum mit Anregungen von Astrid Habiba Kreszmeier zu tun - ein Kreiseln mit interessanten Begegnungen unterwegs.
Unvermutet bin ich in ein Fadenspiel verwickelt. Eigentlich passiert das dauernd. In diesem konkreten Fall kann ich einige originelle Figuren erfassen und ich spiele das Spiel weiter, lade zum Mitspielen ein, indem ich davon erzähle.


Donna Haraway3 verwendet das Bild der Fadenspiele, string figures, als Modell für Denken und Geschichtenerzählen miteinander. Sie beschreibt es „als eine Art und Weise, Denken-mit als sympoietisches Verheddern, Verfilzen, Verwirren, Nachspüren und Sortieren mit zahlreichen GefährtInnen zu betreiben“ (S.49).


Und hier ist es schon, das Wort, mit dem das Fadenspiel, das ich erzählend darstellen möchte, begonnen hat: sympoietisch. Zum ersten Mal habe ich es letzten Herbst bei einem Seminar im Naturtherapielehrgang gehört. Habiba hat es in den Raum geworfen. Der Raum war ein Wald im Appenzellerland. Der Wald wispert wissend. Ich brauche noch ein bisschen, um mit diesem Wort, das so viel bedeutet wie „machen-mit“ oder „miteinander werden“, vertraut zu werden. Das neue Buch „Natur-Dialoge“ war gerade in Druck, als ich begann, den Spuren des Begriffs Sympoiese zu folgen. Ich lande zunächst wieder bei Donna Haraway und ihrer Monographie „Unruhig bleiben“ (engl. „Staying with the Trouble“). Von dort aus hat er seinen Weg in die „Natur-Dialoge“ gefunden, hatte Habiba erzählt. In Haraways Buch wuseln, winden und schlängeln sich unzählige Exempel ko-kreativer, sympoietischer Prozesse in und zwischen Biologie, Gesellschaft, Technik, Kunst. Eine reiche Fundgrube für eine, die sich auf den Weg gemacht hat, um etwas über Sympoiese zu erfahren. Inmitten dieses Gewusels stoße ich auf weitere Spuren, die meine Neugierde wecken. Sie haben mit Geschichtenerzählen zu tun. Geschichten sind bei der Naturwissenschaftshistorikerin (nur ein mögliches Label für diese umtriebig-kreative Frau) Haraway keine Randerscheinungen oder bloße Illustration theoretischer Argumentationen.


„Some of the best thinking is done as Storytelling“ betont sie in dem Film, den Fabrizio Terranova über sie gemacht hat. Der Film trägt den bezeichnenden Titel „Donna Haraway: Storytelling for Earthly Survival“4. Die Spuren, die mich nun weiter locken, sind die von ihr ausgestreuten Hinweise zur Tragetaschentheorie. So gelange ich zu Ursula K. Le Guin.


Die Tragetaschentheorie des Erzählens (engl. „The Carrier Bag Theory of Fiction“) ist ein kurzer Essay der 1929 geborenen und 2018 verstorbenen Schriftstellerin, deren umfangreiches und vielschichtiges Gesamtwerk Science-Fiction, Fantasy, Kurzgeschichten, Kinderbücher, Essays und nicht zuletzt Gedichte umfasst. Ich finde zunächst den englischen Originaltext im Internet5 und lese ihn erst später in der deutschen Übersetzung. Obwohl mir das inhaltliche Verstehen im Deutschen leichter fällt - und der Inhalt ist allemal wert ihn zu lesen! -, sind es gerade Klang, Rhythmus, Sprachmelodie und das Spiel mit changierenden Wortbedeutungen im englischen Original, die mich bezaubern und in den Bann ziehen. Deshalb greife ich für ein Zitat aus dem Essay auf den Originaltext zurück.


Was Le Guin hier präsentiert ist aber nicht nur schön, es ist rebellisch und voll erdender Kraft. Sie legt sich mit dem Helden an, oder besser mit dem Heldenmythos, der in unserer Kultur - unterschwellig oder nicht - so bestimmend ist. Was sie ihm entgegenhält ist eine Tasche, ein Behältnis. Sie erinnert ihn und uns daran, dass am Anfang der Menschwerdung nicht der Stock oder der Speer war, sondern ein Behältnis (engl. recipient). Wie sonst hätten wir gesammelte Nahrung nach Hause bringen können? Und sie erzählt die Geschichte vom Sammeln schöner und nützlicher Dinge in einem Sack, Beutel, Netz, als etwas Urmenschliches. Diese Beutel-Geschichte macht einen Unterschied! Sie macht einen Unterschied für das Geschichtenerzählen selbst, das dann eben nicht pfeil- oder speergleich, linear, progressiv daherkommen muss, sondern, wie in eingangs zitierter Beschreibung, als sorgsames miteinander In-Beziehung-Setzen Bedeutung tragender Worte und Dinge. Und sie macht einen grundlegenden Unterschied für unser Mensch-Sein, dafür wie wir miteinander und mit unserer nicht-menschlichen Mitwelt zusammenleben können.


„It sometimes seems that that story [die Geschichte vom keulen-, schwert-, speerschwingenden Helden] is approaching its end. Lest there be no more telling of stories at all, some of us out here in the wild oats, amid the alien corn, think we'd better start telling another one, which maybe people can go on with when the old one's finished. Maybe. The trouble is, we've all let ourselves become part of the killer story, and so we may get finished along with it. Hence it is with a certain feeling of urgency that I seek the nature, subject, words of the other story, the untold one, the life story. …’untold' was an exaggeration. People have been telling the life story for ages, in all sorts of words and ways. Myths of creation and transformation, trickster stories, folk- tales, jokes, novels ...“5 6


Hierhin bin ich also bei meiner Spurensuche geraten. Bei neuen, alten Geschichten. Aus dem Fadenspiel ist ein Tragnetz geworden, die Sympoiese ist unversehens hineingerutscht und wirkt dort in und zwischen den zahlreichen Dingen, die sich darin versammeln. Während meinem Streunen in Büchern ist das Buch „Natur-Dialoge“ herausgekommen. Ich entdecke darin viele Spuren der „life story“. Kein Wunder. Ich bin wieder an meinem Ausgangspunkt. Der Natur-Dialog-Ansatz mit den drei zentralen Lernfeldern Erdverbindung, Erinnerungspraxis und Resonanzkultur ist tief verwurzelt in der Materie, aus der die alten „Lebensgeschichten“ kommen. Er trägt sie weiter und (er)findet sie neu. Das können wir gut gebrauchen.


Quellen:


1) Le Guin, Ursula K. (2020): Am Anfang war der Beutel. Warum uns Fortschritts-Utopien an den Rand des Abgrunds führten und wie Denken in Rundungen die Grundlage für gutes Leben schafft. Klein Jasedow (thinkOya)


2) Kreszmeier, Astrid Habiba (2021): Natur-Dialoge. Der sympoietische Ansatz in Therapie, Beratung und Pädagogik. Heidelberg (Carl-Auer)


3) Haraway, Donna J. (2018): Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt (Campus)


4) Donna Haraway : Storytelling for Earthly Survival (2017) , Film von Fabrizio Terranova


5) https://monoskop.org/images/9/96/Le_Guin_Ursula_K_1986_1989_The_Carrier_Bag_Theory_of_Fiction.pdf


6) in der oben angeführten deutschen Ausgabe (Le Guin 2020) klingt das so: „Manchmal scheint es, als neige sich diese Geschichte [die Geschichte vom keulen-, schwert-, speerschwingenden Helden] ihrem Ende zu. Damit es nicht bald überhaupt keine Geschichte mehr zu erzählen gibt, sind einige von uns hier draußen inmitten des - in diesem Teil der Welt eingeführten - wilden Hafers der Ansicht, dass wir schleunigst damit anfangen sollten, eine andere Geschichte zu erzählen, eine, die vielleicht dann weitergesponnen werden kann, wenn die alte endgültig ausgedient hat. Vielleicht. Das Problem ist nur, dass wir alle zugelassen haben, selbst ein Teil der Killer Geschichte zu werden, so dass deren Ende auch uns einen Garaus machen könnte. Deshalb suche ich mit einer gewissen Dringlichkeit nach der Natur, nach dem Motiv, nach den Worten jener anderen Geschichte, der unerzählten Geschichte, der Lebensgeschichte. … doch ‚unerzählt‘ war eine Übertreibung. Seit Ewigkeiten erzählen sich die Leute die Lebensgeschichte in allen möglichen Worten und Weisen. Schöpfungs- und Wandlungsmythen, Narrengeschichten, Volkserzählungen, Witze, Romane…“


Mag.a Maria Raab
Mag.a Maria Raab

Psychotherapeutin, Klinische- und Gesundheitspsychologin, Weiterbildung in Systemischer Naturtherapie; tätig in einem Kinderschutzzentrum und in freier Praxis in Wien und Niederösterreich www.am-weg.at.




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.