Realitätenkellner*in: normativ oder performativ
Im Zuge meines Studiums und wohl auch zehn Jahre in meiner Praxis als Sozialarbeiter war ich damit beschäftigt, fachlich „richtig und wahr“ zu handeln.
Hm, hatte ich es mir selbst so zurechtgelegt? War es mir an der Fachhochschule so beigebracht worden? Das kann ich nicht sicher beantworten. Ich glaubte jedenfalls fest daran, dass es eine „einzig richtige und wahre“ Methode gäbe, nach der ich bloß zu suchen müsste. Einmal gefunden, würde ich die „einzig wahre und richtige“ Soziale Arbeit leisten.
Aus heutiger Sicht kostet mich das ein mildes Lächeln. Diese Glaubenssätze sind für mich antiquiert, den hinter ihnen versteckt sich ein sehr mechanistisches und einseitiges Menschenbild: Es geht zum einen davon aus, ich tue etwas als Sozialarbeiter mit meiner Klientin. Dabei weiß ich heute, dass es umgekehrt ist: die Klient*innen tun es; ich darf begleiten. Zum andren konstatiert es, dass es eine richtige Art für alle gäbe. Das mag verlockend klingen: die „einzig richtige und wahre“ Methode endlich im Umgang mit der Klientin gefunden zu haben. Doch heute weiß ich, dass Menschen sehr unterschiedlich sind. Ebenso sehr unterscheiden sich die Situationen, in denen sich diese Menschen befinden. Diese „einzig richtige und wahre“ Methode müsste also für alle Menschen, all deren Charakter- und Persönlichkeitsmerkmale, ja für alle Biografien und alle Lebenslagen und Lebenssituationen passen.
Puh! Wer das entdeckt, geht wohl in die Geschichtsbücher ein!
Heute sehe ich die Dinge anders. Differenzierter. Hypnosystemisch.
Aber was bedeutet dies konkret?
Durch die Ausbildung im hypnosystemischen Integrationskonzept erlebte ich einige fundamentale Wandel. Es veränderte sich mein Welt- und Menschenbild. Das stellte viele alte Werte und Glaubenssätze infrage. Ich begann eine neue Einstellung zu entwickeln. Ebenso transformierte sich mein methodischer Ansatz von einem normativen hin zu einem performativen.
Grund hierfür lässt sich im Realitätenkellner finden, gleichermaßen Konzept sowie Methode: Wirklichkeit ist nicht. Sie wird erzeugt. Das ist eine der grundlegenden Aussagen des hypnosystemischen Integrationskonzeptes. Wenn aber menschliche Wirklichkeit nicht „einfach nur“ ist, kann sie auch nicht „einfach nur“ erkannt werden. Sie wird erzeugt, und zwar jede Sekunde durch unser Denken, Fühlen und Handeln.
Wenn Wirklichkeit erzeugt wird, so wird sie unter anderem durch das Menschen- und Weltbild erzeugt, das ich vertrete. Ebenso gestaltet meine Methode die Wirklichkeit mit.
Das Ergebnis einer „fachlich korrekten“ Sozialen Arbeit ist jeweils das, was als „fachlich korrekt“ von mir als Sozialarbeiter angesehen wird.
Stellt sich bloß noch die Frage, wie meine Klientin das beurteilt…
Aber ist das Ergebnis, das die Klientin erlebt überhaupt wichtig für Soziale Arbeit? Sind nicht wir Sozialarbeiter*innen die Expert*innen für das Soziale? Haben nicht wir zu wissen, wie andere leben können – sollen – dürfen …?
Fragen über Fragen tauchen auf.
Ich reduziere zugegeben die Komplexität, wenn ich den methodischen Zugang auf zwei Möglichkeiten herunterbreche. Selbstverständlich gibt es hier eine differenziertere Bandbreite. Dennoch tut es der Diskussion gut, so vorzugehen. Es scheinen sich zwei Zugänge herauszubilden: ein normativer beziehungsweise expertokratischer und ein performativer, der sich als Realitätenkellner versteht.
Vertreter*innen normativer Zugänge sind damit beschäftigt Theorien, Konzepte und Methoden zu entwickeln, die davon ausgehen, dass ich als Sozialarbeiter zum einen Expertin bin (und zwar wirklich „die eine einzig wahre und richtige“). Ich habe all das notwendige Wissen, den notwendigen Überblick, das volle Entscheidungsvermögen. In meiner Hand liegen alle dafür notwendigen Möglichkeiten und Ressourcen. Ich tue etwas mit der Klientin, das fachlich richtig ist.
Normative Vertreter*innen benötigen Theorien und Konzepte, die das normative Welt- und Menschenbild unterfüttern. Sie müssten Kategorien erstellen, anhand denen das „richtige und wahre“ Handeln gemessen werden kann. Sie sind, so gesehen, systemorientiert und systematisch, womöglich systemisch-phänomenologisch.
Diese Theorien und Konzepte müssen immer weiter verfeinert werden, damit sie auch wirklich die „einzig richtige und wahre“ Wirklichkeit abbilden und daher die dementsprechenden Interventionen ermöglichen.
Sozialarbeiter*innen müssen lediglich diese „einzig richtig und wahren“ Theorien erlernen, um sie später dann bei den Klient*innen zur Umsetzung zu bringen.
Vertreter*innen der normativen Zugänge würden dabei freilich behaupten, dass sie keinesfalls die „einzig richtig und wahren Zugänge“ besäßen oder erforschten.
Das zu sagen ist heute „out“, soziokulturell unmöglich.
Sie würden von Objektivität, von Fachlichkeit, von Systematik und von Sozialarbeitswissenschaft sprechen.
Das zu sagen ist heute „in“, soziokulturell möglich.
Dann komme ich. Zunächst würde ich mich nicht auf die andre Seite stellen. Als Realitätenkellner müsste ich mein Eingangsstatement, dass es zwei Zugänge gäbe, sofort hinterfragen. Ich müsste fragen: Denkst Du (oder: denken Sie), dass es diese Klassifikation wirklich so gibt? Ist dies ein Abbild der Realität? Oder haben wir bloß eine neue Denkstruktur in die Welt gesetzt? Und wenn ja: Was nützt sie uns? Was macht sie mit uns?
Mit mir würde es etwas machen – und zwar im Denken, Fühlen und Handeln –, wenn ich mich als Vertreter der anderen Seite beschriebe. Ich mache dabei auch etwas mit mir: Ich teile mir selbst eine Rolle zu. Möchte ich bloß eine Rolle sein?
Das wäre doch dann auch irgendwie normativ. So gar nicht performativ.
Wirklich ist nicht. Sie wird erzeugt. Das ist ein toller Slogan. Aber er trägt auch weitreichende Konsequenzen. Jeder Gedanke, den ich denke, jedes Wort, das ich verwende, jeder Satz, den ich spreche, jedes Gefühl, das ich wahrnehme, ja jeder Schritt, den ich mache: all dies ist ein stetiges Erzeugen und Gestalten.
Daran zu glauben, verlangt nicht nur nach einer gewissen inneren Bereitschaft zur Selbsterkenntnis. Es verlangt auch nach Selbstwahrnehmung (für mich etwas anderes als Selbstreflexion) und nach Selbstverantwortung. Es ist zugleich aber stets ein Abenteuer, das Leben in sich selbst.
Bin ich Realitätenkellner, so kann ich nicht nach objektiven Klassifikationen alleine vorgehen. Sie sind nützliche Werkzeuge, manchmal auch Leitfäden. Mehr allerdings nicht. Ich muss stetig diese danach beurteilen, ob sie für diesen Menschen in jener Situation passend sind – oder passend gemacht werden müssen.
Ich brauche Theorien, die mir abbilden, wie wir Menschen Theorien erzeugen. Ich brauche Theorien, die meine eigenen Theorien hinterfragen können. Und ich brauche Theorien, die mir trotzdem genügend Handlungssicherheit geben.
Komplex? Oder kompliziert?
Das erinnert mich an Steve de Shazer’s Aussage: „Es ist einfach, aber nicht leicht.“
Als Realitätenkellner kann ich fachliche Gesichtspunkte berücksichtigen. Es ist nicht verboten, mir Wissen anzueignen. Ich muss mir aber bewusst sein, ob ich aus einem angelernten Wissen heraus handle oder aus persönlichen Werte- und Glaubenssätzen oder meiner Intuition oder aus einer methodischen Schrittfolge oder aus Erfahrung oder woraus auch immer.
Ich brauche Selbstwahrnehmung und Bewusstsein über mich selbst und das, was ich tue. Ich brauche Überblick über mich selbst, bin gleichermaßen voll im Hier und Jetzt und kann auf die Meta-Ebene zu mir selbst gehen.
Das ist Selbstwahrnehmung: Nähe mit Abstand.
Dazu gesellt sich die Selbsterkenntnis, was dies mit mir tut. Wie es sich auf die Beziehungsdynamik auswirkt. Was womöglich bei der Klientin passiert – und wie dies wieder auf mich zurückfällt.
Ich beobachte und erkenne mich selbst, nicht das „einzig richtig und wahre“ da draußen. Ich fokussiere meine Aufmerksamkeit nicht auf eine klassifizierende Vorstellung, sondern auf das, was ist. Mir ist bewusst: Ich bin es, der dem „da draußen“ das „richtig“ und das „wahr“ zuschreibt – und was als richtig und wahr angesehen wird, verändert sich sowohl zeithistorisch als auch soziokulturell. Ich fokussiere meine Aufmerksamkeit auf das Innenleben. Ich darf meine Subjektivität in der Situation wahrnehmen. Das, was in mir passiert, ist dann nicht „zufällig“, „lästig“ oder „hinderlich“ oder „störend“ oder „aufwühlend“, „gut“ oder „wahr“ oder „richtig“ oder „automatisch“ oder „am Rande meiner Wahrnehmung“. Was in mir passiert wird ein zentraler Schlüssel zum Verständnis der Szenerie. Es ist eine Schatzkarte. Mich wahrzunehmen und zu erkennen ist dann Teil einer Interventionsstrategie. Ich nutze mich und mein System. Wenn ich expertokratisch vorgehe, dann als Experte für meine somatischen Marker. Ich bin Experte für mein Neurofeedback. Für inneres Erleben. Subjektiv. Situativ.
Zuletzt trage ich Selbstverantwortung. Ich kann mich nicht auf eine Systematik „herausreden“. Das, was ich tue, habe ich zu verantworten. Vollends. Ich trage die Prozessverantwortung im Gespräch. Ich gestalte den Rahmen. Ich kann nicht für die Inhalte meiner Klientin oder deren Lebenssituation die Verantwortung übernehmen. Aber dafür, was ich tue.
Jede Intervention kann ich vor mir selbst und der Klientin verantworten. Ich benötige kein System. Es ist meine Einschätzung, meine Erfahrung und Erklärungsmuster und meine Eigeninitiative, die ich sprechen lasse.
Zuletzt weiß ich als Realitätenkellner: Ich verfüge über eine Speisekarte – meine Konzepte und Methoden, die ich zur Auswahl habe.
Die Klientin wählt aus. Was ich servieren kann, das bringe ich sehr gerne.
Dabei beobachte ich, was das Gebrachte mit mir, der Klientin und unsrer Beziehung macht. Führt es zu unsrem angestrebten Ziel? Entfaltete es die gewünschte Wirkung?
Als Realitätenkellner gehe ich nicht davon aus, dass ich die Götterspeise habe, noch bin ich die Götterspeise. Aber ich kann sehr wohl darauf achten, ob die Mahlzeiten, die ich serviere, auch verträglich sind.
Und manchmal gibt es Gäste, die etwas Information und Aufklärung zur Speisekarte und zur Wirkung von Speisen haben. Würde ich diese Erfahrung, die ich besitze, nicht teilen? Das heißt aber nicht, die Auswahl der Speise zu bestimmen. Oder anzunehmen, ich sei der Einzige, der servieren könne oder gar das Recht habe, zu beurteilen, was das „richtige und wahre“ Essen sei.
Als Realitätenkellner weiß ich jedenfalls: Alle – wirklich alle – kochen bloß mit Wasser.
Und das lässt mich lächeln.
Fasse ich diesen gedanklichen Streifzug durch das hypnosystemische Integrationskonzept fachlich zusammen, so schlussfolgere ich: als Realitätenkellner bin ich performativ. Ich achte auf:
• Neurofeedback: Mein Innenleben wird zu einer wertvollen Schatztruhe, zu einer Schatzkiste an Empfindungen und zu einem wertvollen limbischen Berater, den ich willkommen heiße.
• nahen Abstand oder abstand-haltende Nähe: paradox, aber hilfreich.
• Anwesenheit im Hier und Jetzt, verbunden mit der Meta-Ebene.
• Wahrnehmung meiner Selbst, der Klientin, unsres Gespräches und der damit verbundenen Prozesse (in Kommunikation und Interaktion).
• Realitätskonstruktion: jede Intervention erzeugt Wirklichkeit – Klient*innen dürfen dabei ihr Leben und ihre Entscheidungen für sich selbst gestalten (gesetzliche Grenzen gelten weiterhin).
• Automatismen und Selbsthypnose (die durch die teilweise oder vollkommene Identifikation mit Konzepten oder Ideen einhergehen kann – die mir verdunkeln, mit welchen Filtern ich die Wirklichkeit färbe).
• Wachsamkeit und Bewusstsein (ich nehme wahr, was in mir abläuft, bin voll anwesend, konzentriert, aber werde nicht vom „Spiel des Lebens“ oder der Transaktion vereinnahmt, sondern stehe am Rande, von wo aus ich einen tollen Überblick habe).
• Intervention: Gespräche sind spezielle Formen Aufmerksamkeit zu fokussieren und daher auch Energien zu bündeln und Stärken einzubringen.
• Prozessverantwortung und Selektionsprinzip: Ich gestalte die Wirklichkeit durch mein Denken, Fühlen und Handeln mit. Jedes Wort, jeder Satz und jede Handlung ist das stetige Erzeugen von Wirklichkeit. Darüber weiß ich Bescheid und mir ist bewusst, was ich wähle.
• Zieldienlichkeit und das Wirkungsprinzip: Inwieweit ist die Wirkung unserer Zusammenarbeit dienlich in Bezug auf das Ziel, das Sie sich gesetzt haben?