Vom Dickicht ins Krähennest

Im Dickicht ist die Sicht versperrt. Meist ist man auch bewegungslos, verheddert im Gestrüpp. Es ist keine angenehme Position, aber eine womöglich bekannte. Ein wenig sehnt man sich nach der Aussicht aus dem Krähennest, doch scheint es unerreichbar. Dabei vergisst man, dass man selbst es war, der das eigene Schiff ins Dickicht gesteuert hat. Dass man das Gestrüpp an Bord hat wachsen lassen. Es gäbe noch den Mast und darauf das Krähennest. Man könnte sich erheben und sich dort hinaufbegeben, wo sich das Auge weitet. Wo die Beweglichkeit wartet.


In der Dokumentation „Beobachter im Krähennest“ gibt Niklas Luhmann Einblicke in sein systemtheoretisches Denken und in seine Haltung. Die Grundhypothese des heutigen Artikels ist, dass der Sozialen Arbeit guttäte, öfters im Krähennest Platz zu nehmen. Derzeit, so meine ich, verheddere sie sich allzu oft noch im Dickicht.


Hintergrund des Interviews ist die ökologische Debatte, damals wie heute aktuell. Niklas Luhmann nimmt systemtheoretisch Stellung dazu und reflektiert, was der Impetus solcher Bewegungen sei. Er beschreibt deren Form und Operationalisierung: durch Übertreibung Aufmerksamkeit für eine Sache zu generieren. Protest ist emotional. Das ist eine strukturelle Determination des Systems und wichtig für dessen System-Umwelt-Differenz. Systemtheorie hingegen ist kein Protest. Es ist ein Wissenschaftssystem. Damit übernimmt es eine andre Funktion und ist entsprechend anders codiert beziehungsweise differenziert.


Aber Moment! Sollte nicht eine Theorie, etwa die Systemtheorie, aber auch die Soziale Arbeit, den Protest unterstützen! Gerade Soziale Arbeit sollte doch Soziale Ungleichheit ausgleichen. Wäre da nicht das Gewusel auf der Straße ihre wahre Bestimmung, nicht das Interview und die Codierung gleich einer Systemtheorie? Das würde der Grundhypothese des Artikels widersprechen!


Hier wäre eine ausgezeichnete Möglichkeit, sich im Dickicht zu verheddern. Studierende und Profis der Sozialen Arbeit könnten jetzt argumentieren: Entweder ist eine Theorie parteiisch oder sie ist es nicht. Und könnte das Krähennest in scheinbar unerreichbare Entfernung rücken. Dann wird Soziale Arbeit zum Protest und durch den Protest strukturell determiniert. Zudem wird die Soziale Arbeit behandelt wie eine handelnde Akteurin. Sie ist dann kein Berufs- und Funktionssystem mehr, wie es etwa Olaf Maaß beschreibt. Ein Berufs- und Funktionssystem, so meine Differenzierung, ist eigenbestimmt. Durch den Protest, so die vorläufige Hypothese, ist sie fremdbestimmt (oder könnte es sein beziehungsweise werden). Und so ich frage: Kann eine Theorie sowohl eigenbestimmt als auch parteiisch unterstützend sein? Könnte Soziale Arbeit sowohl eigenbestimmt als auch parteiisch sein. Das Gestrüpp raschelt. So frage ich: Kann eine Theorie weder eigenbestimmt noch parteiisch unterstützend sein? Könnte Soziale Arbeit weder eigenbestimmt noch unparteiisch sein? Die Beweglichkeit kommt ins Spiel. Es lohnt sich diesen Fragestellungen nachzugehen. Das wäre der Übergang von einem dichotomen zu einem paradoxen und zirkulären Denken.


Kehren wir vom Protest, einer konkreteren Beschreibungs- und Vergleichsweise zur Ausgangsfrage zurück.


Was ist das Dickicht? In dieser Lesart sind es unsre eigenen Annahmen, Erklärungsansätze und Konzepte, die wir über die Welt und die Menschen haben. Aber nicht die Annahmen, Erklärungsansätze und die Konzepte sind das Gestrüpp, das uns den Blick versperrt. Unser Glaube daran nimmt uns die Sicht. Wir glauben, dass es so ist. Wir setzen uns freiwillig ins Dickicht. Glauben unterscheidet sich vom Beobachten.


Niklas Luhmann glaubt nicht. Er beobachtet. Und er beschreibt das beobachtete. Dabei beobachtet er das Beschriebene. Und er beschreibt das Beschriebene. Ein zirkulärer Prozess, der auf mehreren Ebenen von Wahrnehmung, Beobachtung und Beschreibung abläuft. So wage ich zu behaupten: das Dickicht ist linear-kausal strukturiert, das Krähennest zirkulär. Das eine ist eine einseitige Bewertung oder Schlussfolgerung. Das andere ist ein Prozess. Eine Wechselwirkung. Und etwas darüber hinaus etwas Mehrseitiges.


Zirkuläre Reflexionsprozesse, so meine Schlussfolgerung, unterstützen die Soziale Arbeit – TheoretikerInnen und PraktikerInnen – dabei, das Dickicht zu verlassen und sich ins Krähennest zu erheben.


Was können wir von Niklas Luhmann lernen? Er erklärt in aller Bescheidenheit, was die Systemtheorie auszeichnet. Er beobachtet während des Interviews seine Beobachtung. Er reflektiert seine Reflexionen. Er spricht in den Begriffen der Theorie über seine Theorie: er legt den Impetus dar, differenziert die Möglichkeiten und Anwendungsgebiete und erklärt, wie es zu einem Verzicht auf einen etwa moralischen Gestus oder eine zweiwertige Logik in seinen Thesen kommt. Luhmann nimmt eine andre Perspektive ein als die von entweder-oder, wahr-falsch oder gut-böse.


Moral, so Luhmann, ist ein System von Achtung und Missachtung: ein binärer Code mit einer funktionalen Aufgabe in der Gesellschaft. Dieser unterscheide sich vom Code der Systemtheorie als Wissenschaft. Und wenn Soziale Arbeit den Code Hilfe/Nichthilfe operationalisiere, so meine Ableitung, sei dies etwas anderes als Achtung oder Missachtung. Als wahr oder falsch. Als gut und schlecht.


Der Sozialen Arbeit täte die Krähennest-Haltung sehr gut. Soziale Arbeit, so schlussfolgere ich, könne von sich aus nicht behaupten, die einzige hilfreiche Profession zu sein. Sie nimmt aber, systemtheoretisch gesprochen, die Stellung eines Funktionssystems in der Gesellschaft ein. Und damit erfüllt sie eine eminent wichtige Funktion.


Aus dem Krähennest kann sie hervorragend unterstützen, sei es nun in Praxis oder Theorie. Dabei begegnet sie Menschen in unterschiedlichen Funktionen und Rollen: KlientInnen, KollegInnen, Angehörigen und andren AkteurInnen.


Der Verzicht auf Moral und das Moralisieren täte der Sozialen Arbeit sehr gut. Allzu oft höre ich von der „bösen Gesellschaft“, „dem furchtbaren Umfeld“, „den armen Klienten“ oder den „tragischen Schicksalsschlägen“. Und dann schlussfolgern die Studierenden und Profis unisono: So sollte es nicht sein. Sie bewerten. Und glauben der eigenen Bewertung. Sie setzen sich ins Dickicht.


Der systemtheoretische Impetus ist ein reflexionsreflexiver Zugang. Wie komme ich zu dieser Bewertung? Was veranlasst mich dazu? Wie wirkt sich diese auf mich aus? Und welche Implikationen hat sie auf mein fachliches Handeln? Weil die Situation so und so sei, müsse ich das und jenes tun, argumentieren die Dickicht-Sitzer. Die Situation erfordere es. Der Schicksalsschlag. Sie tun so, als ob sie keine Wahl hätten. Als ob es nur die eine Möglichkeit gäbe, es so zu sehen.


Es ist nicht die Bewertung, die hypnotisiert. Es ist der Glaube daran. Gunther Schmidt spricht davon, wie wir uns im Alltag selbst hypnotisieren. Klienten tun das. Sozialarbeiter tun das. Die ganze Welt tut das. Muss ich deswegen mittun? Ich erinnere mich an Niklas Luhmann und dessen Krähennest.


Manche mögen im Guckloch sitzen und auf die Welt blicken und meinen, dass eine Theorie – eine Annahme – die Welt nun eben erklären müsse oder nicht. Entweder ist es wahr oder es ist falsch. Lassen wir völlig beiseite, dass dem der Glaube zugrunde liegt, dass man die Welt überhaupt erklären könne. Lassen wir weiters beiseite, warum es überhaupt eine Erklärung für die Welt brauche. Lassen wir die Diskussion beiseite, ob das Objekt die Eigenschaften beobachterunabhängig in sich berge, oder ob Eigenschaften beobachterabhängig wären.


Aber vergessen wir nicht einen Aspekt, den Heiko Kleve so treffend erklärt. Nämlich dass sich unsre Annahmen, Thesen und Theorien zur und von der Welt so verhalten wie die Speisekarte zur Speise. Ist das dasselbe? Das gleiche? Ich beobachte: Menschen schwenken deren Speisekarten und meinen, dass sei die Speise. Und dass ihre Speisekarte besser schmecke. Und was sie ansonsten daraus noch ableiten.


Wie Heinz von Foerster sagt, sind wir Teil der Welt. Wir können mit der Welt tanzen. Und dieser Tanz, dieses Ringen darum, was wirklich und wahr ist, zieht sich durch die Geschichte der Menschheit. Jede Generation stellt ihren eigenen Glauben auf die Beine. Jede Generation schafft sich damit neue Lösungen und zeitgleich neue Probleme. Auch die Soziale Arbeit tut dies. Aber halten wir inne und beobachten, was wir tun? Und beobachten wir diese Beobachtung? Sind wir reflexionsreflexiv? Oder Kleben wir an den eigenen Überzeugungen? Vielleicht gewinnen wir etwas Abstand und machen uns auf in das Krähennest.


Der nächste Artikel beschäftigt sich mit dem Thema Met(t)a – oder anders formuliert: wie das Krähennest mit der Subjekt-Subjekt-Haltung verbunden werden kann.


Literaturhinweise


Kleve, Heiko (2021): Reduzierte Komplexe – Videocast #1: Systemtheorie und Corona I: Die „Selbstbestimmung“ der Systeme.


Kleve, Heiko (2021): Reduzierte Komplexe – Videocast #2: System-Grenzen.


Luhmann, Niklas (1989): Der Beobachter im Krähennest. Westdeutscher Rundfunk Köln / WDR / West 3.


Luhmann, Niklas (2020): Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: Carl Auer.


Maaß, Olaf (2009): Die Soziale Arbeit als Funktionssystem der Gesellschaft. Carl Auer: Heidelberg.


Schmidt, Gunther (2011): Wie hypnotisieren wir uns erfolgreich im Alltag - Einführung in hypnosystemisches Empowerment. DVD. Auditorium Netzwerk: Müllheim.


Von Foerster, Heinz u. Bröcker, Monika (2007): Teil der Welt: Fraktale einer Ethik - oder Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. Heidelberg: Carl Auer.