Impf- und andere Pflichten

Bei der Diskussion um eine mögliche Impfpflicht (für bestimmte Berufsgruppen oder generell) wird immer wieder auf die vermeintlich entgegenstehenden Rechte verwiesen (z.B. die „Menschenrechte“). Grund genug einmal allgemeiner auf Rechte und Pflichten bzw. deren soziale Wirkungen zu schauen.


Zunächst ist festzustellen, dass Rechte und Pflichten nicht naturgegeben sind, sondern innerhalb sozialer Systeme ausgehandelt werden. Was heute als selbstverständliches Recht oder Pflicht betrachtet wird, war es vor einigen Jahrhunderten nicht und ist es auch heute in vielen Gegenden der Welt immer noch nicht (ich spare mir hier die Auflistung, da dies den Umfang dieses Blogs sprengen würde).


Verbindliche Rechte oder Pflichten werden in der Regel politisch entschieden. Daher ist z.B. die Tatsache, dass in Deutschland die Impfquote so niedrig ist, nicht in erster Linie kausal den impfunwilligen Individuen zuzuschreiben, die sich auf das Recht der Unversehrtheit ihres Körpers berufen, sondern den politischen Entscheidungsgremien. Wenn sie wollen, dass möglichst viele Leute sich impfen lassen, dann ist die Etablierung einer Pflicht eine Möglichkeit (wahrscheinlich nicht die einzige – und ich will hier auch gar nicht dafür plädieren, das habe ich ja in meinem vorigen Post zur Genüge getan).


Pflichten gab und gibt es ja einige in Deutschland, Österreich und der Schweiz: Die Wehrpflicht, die Schulpflicht, die Steuerpflicht, die Pflicht Parkgebühren zu zahlen und auch gewisse Impfpflichten usw. All dies sind ziemlich weitreichende Einschränkungen der individuellen Freiheit, ohne dass ihretwegen Demonstrationen vor dem Brandenburger Tor veranstaltet werden oder der Reichstag gestürmt wird. Sie werden als selbstverständlich akzeptiert. Analoges gilt für Rechte. Sie werden als selbstverständlich betrachtet, ohne zu fragen: Warum eigentlich?


Es macht für die Spielregeln des Zusammenlebens in einem sozialen System aber einen riesigen Unterschied, ob Rechte oder Pflichten als Prämisse der Entscheidung verwendet werden. Nicht nur individuell – das zu allererst –, sondern auch kollektiv, was die Erwartungen an das Verhalten des Einzelnen betrifft.


Das lässt sich ganz gut an den Corona-Maßnahmen illustrieren. Die wesentliche Wirkung einer offiziellen Impfpflicht wäre ja nicht, dass sich nun alle Menschen impfen lassen (genauso wenig, wie alle Leute ihre Parkgebühren bezahlen) oder irgendwer zwangsweise eine Spritze in den Arm bekäme (das ließe sich schlicht nicht durchsetzen, würde auch keiner tun wollen, obwohl das ja in der Psychiatrie tattäglich geschieht...- aber das ist ein anderer Kontext, der anderweitig diskutiert werden muss). Ein die Zahl der Geimpften auch ohne Zwangsmaßnahmen steigernder Effekt der Impfpflicht wäre, dass die bislang Ungeimpften nun eine ganz andere Entscheidung treffen müssten. Während sie sich ohne Impfpflicht für (!) eine Impfung entscheiden müssen (was ihnen schwerfallen mag, wenn sie all die Gruselgeschichten über das Einpflanzen von Chips durch Bill Gates oder auch die selektiv zitierten medizinischen Studien der Impfgegner im Netz gelesen haben), so müssen sie sich bei einer Impfpflicht gegen (!) die Impfung entscheiden. Das ist eine andere Art der Entscheidung. Das ist Gesetzgebern klar, wenn sie z.B. die Bereitschaft zur Organspende als „selbstverständliche“ Erwartung setzen, gegen die man sich entscheiden kann, statt zu fordern, dass man als Bürger aktiv wird, um sich freiwillig einen Organspenderausweis zu beschaffen und so seine Bereitschaft zur Spende zu erklären.


Durch eine Impfpflicht würde deutlich, dass die selbstverständliche Erwartung besteht, dass die Bürger sich impfen lassen. Wer das nicht will, widerspricht dieser Erwartung und hat einen Preis dafür zu zahlen. Auch die Wehrpflicht konnte man verweigern. Man musste dafür aber – über viele Jahre – einen Preis bezahlen: Sich einem Seelenstriptease vor einer Gruppe älterer, Wehrdienst für eine „verdammte Bürgerpflicht“ haltenden, Männern, die manchmal alte Nazis waren, unterziehen. Welches der Preis für die Verweigerung der Corona-Impfpflicht wäre, ist dabei unwesentlich. Die Wahrscheinlichkeit der Steigerung der Impfungen wäre damit erhöht. Wenn hingegen mit dem (Menschen-)Recht auf die Unversehrtheit des eigenen Körpers argumentiert wird, so muss sich derjenige, der sich zur Impfung entscheidet, zum Verzicht auf ein Recht entscheiden. Das ist individuell-psychologisch als auch kollektiv eine andere Situation und Alternative.


Wenn man, um diese Erörterung hier nicht ausufern zu lassen (denn wir könnten jetzt auch über Teststrategien und deren Freiwilligkeit, Bezahlung etc. reden), zum Schluss eine Maxime: Wenn wir wollen, dass etwas Bestimmtes getan wird, dann sollten wir die Regeln so konstruieren, dass man sich nicht extra – aktiv – dafür entscheiden muss, sondern so, dass man gezwungen ist sich – aktiv – dagegen zu entscheiden, wenn man es nicht tun will...