Putin oder: Die Einsamkeit des Hierarchen

Wenn man den journalistischen Berichten trauen kann, dann scheint der russische Präsident ziemlich isoliert zu sein. Das mag an seiner Angst vor Corona und dem Misstrauen dem russischen Impfstoff gegenüber liegen, hat aber – und das betrifft nicht nur Putin, sondern alle Hierarchen – mit seiner Stellung innerhalb einer hierarchischen Organisation zu tun.


Denn deren Kommunikationswege, speziell die formellen Strukturen, sorgen dafür, dass Hierarchen nur noch sehr selektiv mitgeteilt bekommen, was ihre Mitarbeiter („Unterlinge“) sehen und hören, was sie darüber denken und meinen usw. Der Preis, den Hierarchen generell für ihre Macht zu zahlen haben, ist, dass sie blöd gehalten werden bzw. das Risiko laufen zu verblöden.


Der Grund: Sie erhalten keinen Widerspruch, sondern im besten Fall Bestätigung für ihre Sichtweisen. Der Sinn von Hierarchie besteht darin, Kommunikation überflüssig zu machen oder auf ein Minimum zu reduzieren (mein Lieblingsbeispiel, weil selbst erlebt, ist der OP, wo die Kommunikation zwischen Operateur und OP-Schwester auf ein Minimum reduziert ist: „Tupfer“, „Klemme“, „Faden“ usw.; es gibt keine Sachdiskussionen nach dem Motto: „Was meinen Sie, Schwester Erika, sollten wir diese sprudelnde Arterie abbinden oder nicht? Lassen Sie uns eine Pro-und-Kontra-Liste erstellen!“).


In dieser Situation ist im Prinzip jeder Hierarch. Wenn er nicht immer nur die selbst versteckten Ostereier finden und kein vollkommen verzerrtes Weltbild entwickeln will, ist er gut beraten, sich Widerspruch zu organisieren. In Organisationen bekommt er den nicht spontan, denn das würde den Entscheidungsprämissen der Organisation entgegenlaufen. Also, er muss die Kritik einfordern, sonst bekommt er sie nicht...


Dass Putin das tut, scheint mir sehr zweifelhaft. Bei seiner Rede zur Anerkennung von Luhansk und Donjesk als autonome Staaten schien er sehr wütend zu sein. Das spricht dafür, dass er niemanden hat, der ihm emotionale Distanz verschafft. Die riesigen Tische, an denen er nicht nur ausländische Staatsoberhäupter empfängt, sondern auch seinen Außenminister, und die Art und Weise, wie er seinen sehr verunsicherten Geheimdienstchef, der seiner Körpersprache nach (vielleicht) nicht ganz einverstanden mit der Annexion der beiden Ukraine-Provinzen gewesen sein könnte, abgekanzelt hat, sprechen jedenfalls nicht dafür, dass Putin sich mit genügend wohlwollenden Kritikern umgibt.


Auch wenn er von der militärischen Bedrohung durch die Ukraine usw. spricht, hat das einen paranoiden Anstrich... Armer Putin.