Eine ganz kurze Einführung in die soziologisch orientierte Systemtheorie

1. Was ist ein System?[1]


1.1 Der Begriff des „Systems“ wird in unterschiedlichen Wissenschaften (z.B. der Technik/Ingenieurwissenschaft, Biologie, Psychologie, Soziologie etc.) verwendet, um beobachtete technische/maschinelle, biologische (organismische), psychische und soziale Phänomene zu beschreiben und zu erklären. Demnach können wir (nach Luhmann) zwischen folgenden Systemen unterscheiden: Maschinen, Organismen, psychische Systeme und soziale Systeme. Soziale Systeme können mindestens noch einmal in Interaktionen, Organisationen und Gesellschaft unterteilt werden.


1.2 Für die Human-, Geistes- und Sozialwissenschaften sind insbesondere die organismischen (= biologischen = lebenden), sozialen und psychischen Systeme sowohl in ihrer jeweiligen Eigenständigkeit als auch in ihrer gegenseitigen Wechselwirkung („strukturellen Kopplung“) relevant.


1.3 Biologische, psychische und soziale Systeme können jeweils als Einheiten beschrieben werden, die aus Elementen bestehen, die wechselseitig miteinander verkettet sind und sich so von einer Umwelt nicht dazugehöriger Elemente unterscheiden/abgrenzen/differenzieren. Um ein System zu erkennen, muss ein Beobachter (das kann auch das System selbst sein) die Unterscheidung System/Umwelt seinen Beobachtungen zugrunde legen, also Elemente beobachten, die von nicht dazugehörigen Elementen (der Umwelt) unterschieden werden. Insofern ist die Bestimmung eines Systems in Abgrenzung zu einer Umwelt immer auch ein Konstruktionsprozess eines Beobachters, eines Unterscheiders (das System selbst kann dieser Beobachter/Unterscheider sein).


1.4 Soziale Systeme lassen sich (wie in der Übersicht 1 zu sehen) nochmals differenzieren in Interaktionssysteme (Sozialsysteme der face-to-face-Kommunikation), Organisationssysteme (Sozialsysteme, die rechtlich kodifiziert und formal strukturiert sind, z.B. Unternehmen, Ämter, Universitäten etc.) und Gesellschaftssysteme (z.B. Stammesgesellschaft, Schichten-/ Klassengesellschaft, moderne/arbeitsteilige/funktional differenzierte Gesellschaft, nächste/vernetzte Gesellschaft).


2. Mit welchen Systemen beschäftigen wir uns in Kontexten, in denen es um Führung und Leitung oder um Unterstützung (Beratung, Coaching) von Menschen geht?


2.1 In allen genannten Kontexten des menschlichen Zusammenarbeitens beschäftigen wir uns mit sozialen Systemen und deren Auswirkungen auf psychische und organismische Systeme bzw. mit den Wirkungen von psychischen und organismischen Systemen auf soziale Systeme. (Die Einheit der Differenz des psychischen Systems und des organismischen Systems bildet den Menschen: psychisches System + organismisches System = Mensch.) Menschliche Bedürfnisse sind in dieser Weise immer in dreierlei Hinsicht zu betrachten: biologisch/körperlich, psychisch und sozial.


2.2 Die Systemtheorie hat den Anspruch, dass sie alle gesellschaftlichen Funktionen auf ihren unterschiedlichen sozialen Differenzierungsebenen zu beschreiben in der Lage ist (Universalitätsanspruch der Theorie). So kann etwa die Wirtschaft als Subsystem der Gesellschaft in ihrer Funktion als Knappheits-Regulator im Medium des Geldes auf einer allgemeinen und abstrakten (gesellschaftlichen) Ebene beschrieben werden (Makro-Ebene). Wirtschaftliche Institutionen, also Unternehmen welcher Art auch immer, lassen sich als Organisationen beschreiben und erklären. Konkrete wirtschaftliche Kommunikationen, etwa Einkäufe in einem Supermarkt oder auch unternehmensbezogene Gespräche zwischen Mitarbeitern können schließlich als Interaktionen gefasst werden.


2.3 Die Systemtheorie ermöglicht es, (1.) die inneren Prozesse der genannten Systeme (etwa die Wechselwirkungen zwischen den Systemelementen) und die äußeren Prozesse (die Beziehungen) zwischen verschiedenen Systemen zu beschreiben und zu erklären.


3. Wie können wir uns Systemanamnese, -diagnose und -intervention vorstellen, insbesondere dann, wenn soziale Systeme als problematisch erlebt werden und zur Veränderung angeregt werden sollen?


3.1 In der Regel gehen die Systemanamnese, -diagnose und -intervention von den jeweils relevanten sozialen Systemen aus. Es wird nach den Regeln und Mustern innerhalb dieser Systeme und nach den Auswirkungen auf die psychischen und biologischen Systeme (Menschen) gefragt, die am jeweiligen sozialen System teilhaben (inkludieren) und wie diese wiederum auf das soziale System wirken.


3.2 In der System-Anamnese wird die phänomenale Frage gestellt, worum es überhaupt geht, welches Problem bezogen auf welches System betrachtet wird. Weiterhin geht es darum, die relevanten Personen, die durch ihre wechselseitig aufeinander bezogenen Verhaltensweisen das soziale Systeme bilden (inkludierte System-Mitglieder), auszuwählen. Als Hilfsmittel für die System-Anamnese können Visualisierungen und Skulpturen/Aufstellungen dienen.


3.3 Nach der System-Anamnese kann eine System-Diagnose erfolgen. Hierbei wird die kausale Frage gestellt, es wird gefragt, wie der jeweilige Zustand des Systems oder seiner Mitglieder (z.B. relevante Probleme oder Symptome) erklärt werden könnte. Es wird nach den (Verhaltens-)Regeln und Mustern des Systems geforscht sowie danach, wie diese das Verhalten des Systems und seiner Mitglieder bedingen. Da alles, was in Systemen passiert, eine Funktion für das System (z.B. die Erhaltung oder Weiterentwicklung des Systems) oder seiner Mitglieder (z.B. die Erhaltung, Sicherung oder Ausweitung einer bestimmten Position, Rolle oder Beziehung) erfüllt, wird nach dieser Funktion bzw. nach dem „Sinn“ des Problems für das System und seiner Mitglieder geforscht.


3.4 Die System-Behandlung/Intervention geschieht bereits während der System-Anamnese und -Diagnose. Sobald das System konfrontiert wird mit neuen Informationen, die während der Anamnese und vor allem während der Diagnose durch Fremdbeobachter (etwa durch externe Berater/innen, Coaches etc.) gewonnen/konstruiert werden, können diese auf das System und seine Mitglieder wirken und das Systemverhalten beeinflussen.


Wichtig: Systeme reagieren immer selbstbestimmt, nur entsprechend ihrer Möglichkeiten; sie können von außen zwar angeregt werden, sich zu ändern, aber wie sie sich dann ändern, das hängt von ihren eigenen Regeln, Potentialen ab. Hiermit wird auch systemtheoretisch plausibel, dass Hilfe immer nur Hilfe zur Selbsthilfe, zur Selbstveränderung sein kann.


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[1] Diese Text basiert auf den Anhang I in Kleve (2010), S. 149 ff.


Literatur:


Heiko Kleve (2010): Konstruktivismus und Soziale Arbeit. Einführung in Grundlagen der systemisch-konstruktivistischen Theorie und Praxis. Wiesbaden: VS Verlag (4. durchgesehene Auflage).


Niklas Luhmann (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.


Fritz B. Simon (1995): Die andere Seite der Gesundheit. Heidelberg: Carl-Auer.