Eine ganz kurze Einführung in die Geschichte der systemischen Theorie und Praxis

„Systemdenken ist ‚kontextbezogen’, und das ist das Gegenteil von analytischem Denken. Analyse heißt, daß etwas auseinandergenommen wird, um es zu verstehen –  Systemdenken heißt, daß etwas in den Kontext eines größeren Ganzen gestellt wird.“  Fritjof Capra


1. Welche Ursprünge hat die Systemtheorie?*


Die aktuelle Systemtheorie, wie sie heute in unterschiedlichen Wissens- und Praxisgebieten Anwendung findet, hat unterschiedliche und vielfältige Wurzeln, die auf philosophische, psychologische, sozialwissenschaftliche, aber auch auf ingenieurwissenschaftliche (vor allem kybernetische) und naturwissenschaftliche (vor allem biologische) Forschungen und Theorien zurück gehen. Daher ist es kaum möglich, die gesamte Breite der Ursprünge des systemtheoretischen Denkens zu überblicken; lediglich eine kleine Auswahl geschichtlicher Wurzeln kann betrachtet werden.


2. Ein philosophischer Ursprung


2.1 Systeme werden oft mit einem Satz des griechischen Philosophen Aristoteles (384-322 vor unserer Zeitrechnung) beschrieben: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.


2.2 Demnach können wir Systeme als Ganzheiten verstehen, die wir nicht adäquat erklären können, wenn wir lediglich die einzelnen Teile (Elemente) des Systems analysieren. Vielmehr wird mit der Systemtheorie betont, dass es darauf ankommt, die Beziehungen und Wechselwirkungen der Systemelemente untereinander zu betrachten, um einerseits zu verstehen, warum die Teile (Elemente) so reagieren, wie sie reagieren, und um andererseits zu verstehen, warum das System als Ganzes sich so gestaltet, wie es sich gestaltet.


2.3 Oft wird der Begriff der „Emergenz“ benutzt, um zu verdeutlichen, dass Systeme durch Wechselwirkungen und Beziehungen der Teile untereinander Eigenschaften hervorbringen, die erst dadurch entstehen, dass sich die Systemelemente wechselseitig aufeinander beziehen und dass sie dadurch Regeln, Muster, Strukturen ausbilden, die nicht auf die einzelnen Teile, sondern auf die Beziehungen zwischen den Teilen zurückgeführt werden können.


2.4 Aktuelle Ansätze der philosophischen Erkenntnistheorie, die unter dem Stichwort „Konstruktivismus“ zusammengefasst werden, sind häufig (auch) systemtheoretisch unterfüttert. Demnach konstruiert jedes System, wenn es sich von einer Umwelt (als System) unterscheidet, Wirklichkeit; die erste konstruierte Wirklichkeit ist die Unterscheidung von System/Umwelt.


3. Ein biologischer Ursprung


3.1 In der Biologie wird gefragt, wie die Funktionsweise und Entwicklung von Lebewesen beschrieben und erklärt werden kann. Ist es etwa möglich, Organismen dadurch zu verstehen, dass sie analysiert, dass sie also auf ihre einzelnen Bestandteile zurückführt werden, dass wir die einzelnen Glieder und Organe betrachten, z.B. dadurch, dass wir einen toten Organismus sezieren. Besonders zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde deutlich, dass es, um die Funktionsweise von lebenden Organismen zu verstehen, nicht ausreicht, die Bestandteile, Organe etc. der Organismen im den Blick zu nehmen. Vielmehr kommt es darauf an, (1.) die Beziehungen zwischen den Organen, (2.) ihre jeweiligen Funktionen für den ganzen Organismus und (3.) den Austausch des Organismus und seiner Teile mit der Umwelt zu betrachten.


3.2 Der ganze Organismus kann als ein System betrachtet werden, das in seiner Funktionsweise verstanden und erklärt werden kann, wenn die Wechselwirkungen der einzelnen Organe, ihr Bezug zum ganzen Organismus und der Austausch mit der Umwelt in den Blick genommen werden.


3.3 Nach diesem Denken können Krankheiten, Dysfunktionen des Organismus nicht (nur) auf die Bestandteile/Organe zurückgeführt werden, die die Krankheit zeigen, sondern sollten aus der Wechselwirkung der Bestandteile des gesamten Organismus erklärt werden. Somit reicht es nicht aus, einzelne kranke Organe medizinisch zu behandeln, sondern es ist passender, auf die Wechselwirkungen und Beziehungen der Organe untereinander einzuwirken, mithin die Beziehungen zwischen den Elementen des Organismus zu „heilen“. Besonderes die Konzepte der alternativen „ganzheitlichen“ Medizin setzen so oder ähnlich an, z.B. Homöopathie, chinesische Medizin (etwa Akupunktur) etc.


3.4 Seit Ende der 1960er Jahre ist insbesondere der chilenische Biologe Humberto Maturana (und sein Kollege Francisco Varela) als Systemtheoretiker bekannt geworden. Er hat ein neues Modell entwickelt, um lebende Systeme zu verstehen, und zwar das Modell der „Autopoiesis“, das erklärt, wie sich ein Organismus aus den Bestandteilen, aus denen er besteht (z.B. Zellen, Organe) permanent selbst reproduziert und organisiert, seinen Austausch mit der Umwelt regelt und sich in dieser erkennend orientiert. Das Modell der Autopoiesis ist inzwischen zu einem zentralen Denkmodell auch psychologischer und sozialwissenschaftlicher, etwa soziologischer Systemansätze geworden.


4. Ein ingenieurwissenschaftlicher/kybernetischer Ursprung


 4.1 Seit den 1940er Jahren hat sich in der Ingenieurwissenschaft, insbesondere im militärtechnischen Zweig, eine neue Wissenschaft entwickelt: die Kybernetik. Der Begriff Kybernetik kommt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich Steuermann. Die Kybernetik beschäftigte sich zunächst mit Prozessen der Selbststeuerung, wie z.B. eine Rakete so fliegen und ihr Ziel anvisieren kann, dass sie Hindernisse umgehen oder sich verändernden Zielpositionen eigenständig anpassen kann. Ein geläufigeres Beispiel einer kybernetischen Steuerung ist ein klassischer Thermostat, z.B. an einer Heizung oder an einem Bügeleisen. Dieser Thermostat hat die Aufgabe, eine bestimmte Temperatur zu erreichen und, wenn diese erreicht wurde, die Heizung auszuschalten. Sobald die Temperatur wieder abfällt, wird die Heizung eingeschaltet. Es kommt also zu einer Selbststeuerung, und zwar aufgrund eines kybernetischen Kreislaufs: Messung der Temperatur --> Einschalten der Heizung bei einer Temperatur, die unter dem (eingestellten) Sollwert liegt/Ausschalten der Heizung, wenn die gemessene Ist-Temperatur mit der Soll-Temperatur übereinstimmt oder höher ist --> Messung der Temperatur --> Einschalten der Heizung bei einer Temperatur, die unter dem (eingestellten) Sollwert liegt / Ausschalten der Heizung, wenn die gemessene Ist-Temperatur mit der Soll-Temperatur übereinstimmt oder höher ist usw. usf. Ein solcher Kreislauf wurde ebenfalls mit dem Begriff des Systems bezeichnet; und man stellte fest, dass auch in der Natur und der Gesellschaft viele Prozesse derartige kybernetische Kreislaufstrukturen aufweisen, die dazu führen, dass bestimmte Zustände (im Beispiel: die Temperatur) konstant gehalten werden.


 4.2 Heute wird die beschriebene Kybernetik als Kybernetik 1. Ordnung verstanden und man beschäftigt sich in der Systemtheorie mit einer Kybernetik 2. Ordnung. Die Kybernetik 2. Ordnung beschreibt nicht Kreislaufstrukturen, sondern richtet den Blick auf diejenigen, die beschreiben und beobachten und fragt nach den Bedingungen und Möglichkeiten von Erkenntnis und Beobachtung, wie es also kommt, dass Beobachter so beobachten, wie sie beobachten und ob sie nicht auch anders beobachten könnten. Die Kybernetik 2. Ordnung ist genaugenommen Philosophie, philosophische Erkenntnistheorie.


5. Ein psychologischer/psychiatrischer Ursprung


 5.1 Seit den Anfängen der Psychologie und Psychiatrie wird bei individuellen Symptomen vor allem versucht, die betroffenen Individuen zu behandeln, individuelle Psychen zu beeinflussen und zu therapieren. Zwar wurde schon früh (bereits in der Sozialpsychologie und Sozialarbeit der 1920er Jahre) gesehen, dass individuelles Verhalten von den sozialen Bedingungen abhängig ist, in denen dieses Verhalten gezeigt wird, aber dennoch wurde vor allem versucht, das Verhalten zu beeinflussen über die Arbeit mit dem Individuum.


5.2 In den 1940 und 1950er Jahren entwickelte sich in den USA eine alternative Sichtweise, und zwar dass individuelle Verhaltensweisen stärker mit den sozialen Beziehungen zusammen hängen als dies bisher angenommen wurde. Besonders die Forschungen des Kommunikationswissenschaftlers Gregory Bateson (1904-1980) sind in diesem Zusammenhang erwähnenswert. Bateson beobachtete, dass schizophrene Verhaltensweisen von Menschen ihre Geschichte haben in „verrückten“ zwischenmenschlichen Beziehungssystemen, und zwar in Familiensystemen, in denen vor allem widersprüchliche Kommunikationen, sogenannte „Double Binds“ vorherrschen. Daraus wurde geschlussfolgert: Wenn wir individuelles Verhalten verstehen wollen, dann müssen wir uns anschauen, in welchen Kontexten es erworben und ursprünglich gezeigt wurde; wenn wir dies realisieren, entdecken wir, dass selbst vermeintlich verrücktes, nicht nachvollziehbares Verhalten „Sinn“ machen kann, eine Funktion erfüllt, und zwar für den Kontext, in dem es erworben oder gezeigt wird/wurde.


 5.2 Besonders die Kommunikationstherapie und -theorie von Paul Watzlawick (1921-2007) sowie die Familientherapie (die eng mit den Arbeiten Watzlawicks zusammen hängt) haben sich die Erkenntnisse der Forschungen von Bateson zunutze gemacht. In der Familientherapie werden individuelle Symptome und Probleme immer auf den ganzen familiären Kontext bezogen. Individuelles Verhalten wird als Teil eines größeren Systems (der Familie) verstanden, und es wird nach dem Sinn, nach der Funktion des Verhaltens (auch von Symptomen und Problemen) gesucht.


5.3 Außerdem führte die Erfahrung, dass Nutzerinnen und Nutzer von therapeutischen Hilfen zwar in einer helfenden Beziehung oder in einer stationären Einrichtung ihre Symptome lindern bzw. ihre Probleme lösen konnten, dass jedoch diese Symptome/Probleme wieder in anderen (z.B. familiären) Kontexten auftraten, zu der Auffassung, dass die größeren Systeme, an denen Menschen teilnehmen und welche das Verhalten stark bedingen, ebenfalls in die Arbeit mit einbezogen werden sollten. So entstand allmählich die systemische Perspektive in der psycho-sozialen Praxis – also jene Perspektive, die sich für die Beziehungen zwischen den Menschen interessiert und jedes individuelle Verhalten als Teil eines sozialen (Beziehungs-) Systems betrachtet.


6. Ein soziologischer/sozialwissenschaftlicher Ursprung


6.1 Die Soziologie ist die Wissenschaft von dem Sozialen, also von den Beziehungen zwischen den Menschen und von den Ordnungen, die sich zwischen Menschen etablieren, wenn Menschen zusammenleben. In dieser Hinsicht ist die Soziologie die systemische Wissenschaft schlechthin. Sie interessiert sich nämlich nicht für die einzelnen Menschen, sondern für das, was entsteht, wenn Menschen zueinander in Beziehung treten, nämlich für soziale Gebilde, d.h. für Institutionen, Kultur, Werte und Normen und auch für Probleme, die durch Sozialität entstehen. Bereits die frühe Soziologie kann demnach als systemisch betrachtet werden. So äußerte beispielsweise ein Gründervater der Soziologie, Emile Durkheim (1858-1917), dass es der Soziologie darauf ankäme, Soziales aus Sozialem zu erklären. Genau dies könnte auch als Moto der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie angesehen werden: Verhalten, das immer eine soziale Tatsache ist, das immer auch als eine Kommunikation aufgefasst werden kann, zu erklären durch den Rückbezug auf die sozialen Kontexte, in denen es gezeigt wird.


6.2 In den letzten Jahrzehnten ist in den Human-, Geistes- und Sozialwissenschaften insbesondere der Soziologe Niklas Luhmann (1927-1998) als Weiterentwickler und Promoter einer sehr versierten, vielfältig anwendbaren Systemtheorie bekannt geworden. Luhmann bezieht sich auf ältere soziologische Systemtheorien, z.B. auf die Theorie des amerikanischen Soziologen Talcott Parsons (1902-1979), aber auch auf biologische, kybernetische und philosophische Erkenntnisse.


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*Dieser Text basiert auf den Anhang I in: Heiko Kleve (2010): Konstruktivismus und Soziale Arbeit. Einführung in Grundlagen der systemisch-konstruktivistischen Theorie und Praxis. Wiesbaden: VS Verlag (4. durchgesehene Auflage).