Sounds of Science / Christoph Klein - Die Kraft des Miteinander

Damit sich ein Kind gut entwickeln kann, braucht es ein ganzes Dorf, sagt man. Im Gespräch mit Carl-Auer Sounds of Science gibt der systemische Therapeut, Supervisor und Lehrende Christoph Klein vom Berliner Zentrum für Präsenz und Kompetenz in Beziehungen (PUK) spannende Einblicke in eine Entwicklung, die immer mehr in Psychotherapie, Pädagogik und Sozialer Arbeit Tätige überzeugt: Es geht ganz konkret um die Kraft des Miteinander. Unter diesem Titel hat Christoph Klein gemeinsam mit Ben Furman ein Werk herausgegeben, in dem Ansätze wie Neue Autorität, Kinder aus der Klemme, Ich schaffs!, Multifamilientherapie, Familienrat, Kidstime u. a. einander und den Leser:innen ihre Stärken zur Verfügung stellen. Hier ist das Who-is-Who dieser Ansätze versammelt, u. a. Justine van Lawick, Eia Asen, Idan Amiel, Thomas Pletsch, Erzsébet Roth, Sue Young – und natürlich Christoph Klein und Ben Furman selbst.


Alle Autor:innen tragen auch bei zum 6. Berliner Kongress „System & Körper“ Die Kraft des Miteinander von 12. – 14. Mai 2022, ausgerichtet von der GST Berlin.


Es braucht, so Christoph Klein, wesentlich mehr Zusammenarbeit und Austausch von Kompetenzen in Ausbildung und Praxis, um den großen Herausforderungen wirklich gerecht zu werden, die eine Gesellschaft lebenswürdig und lebensfähig machen. Dies ist ganz besonders im Interesse von Kindern und Jugendlichen, aber eben damit auch im Interesse aller Beziehungsgeflechte und Netzwerke, in und mit denen sie leben, und im Interesse wirklich hilfreicher Unterstützung und Beratung mit Familien, in Praxen, Beratungsstellen, KiTas, Schulen u. v. a. m.


Christoph Klein, Dipl. Päd., Familientherapeut, systemischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Lehrender und Supervisor (DGSF) bei der Gesellschaft für Systemische Therapie und Beratung Berlin; Mitbegründer des Berliner Zentrum für Präsenz und Kompetenz in Beziehungen (PUK) zur Stärkung der Arbeit mit Mehrfamiliengruppen und Gemeinschaftsnetzwerken. 


Ob im Auto, im Bett, in der Badewanne, mit der Maske im Bus, im Zug oder in der Warteschlange beim Einkauf oder vor der Bank, beim Joggen und Kochen alleine oder mit Partnern: Bleiben Sie wach, mit Sounds of Science! Und, wo es geht, die freien Augen und den freien Geist nutzen: Carl-Auer Bücher lesen!



Zusammenfassung des Interviews


Aktuell kommt, herausgegeben von dir und Ben Furman, frisch aus der Druckerei ein Werk, das man ohne Übertreibung als einen Meilenstein bezeichnen kann in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen, Familien und – lass es mich so sagen –: allem, was menschliche Gemeinschaften ausmacht. Es geht um Netzwerk- und Gemeinschaftsorientierung in der therapeutischen, pädagogischen, sozialarbeiterischen Arbeit und weit darüber hinaus. Dich, Ben Furman und alle beteiligten Autor:innen eint wohl, dass wir neu denken und handeln müssen. Worauf kommt es an? Was ist – dramatisch gesprochen – der „Plot“?


Es ist ein ganz alter Plot – also nichts Neues. Neu ist, dass wir mit dem Buch zeigen, was überall auf der Welt längst praktiziert wird! Der Plot hat mit der Weisheit zu tun, dass es ein ganzes Dorf braucht, damit wir uns entwickeln, und natürlich gerade in Krisen! Es geht dabei nicht nur um Kinder und Eltern. Es geht über die Kleinfamilie und sogar die erweiterte Familie hinaus. In einem Dorf gibt es Freunde, Menschen mit ähnlichen Schwierigkeiten, Menschen, die hohes Ansehen haben wie ein Imam oder die beliebt sind, wie die Sportlehrerin. Und es gibt nicht nur Sympathieträger, sondern ein ruppiger Onkel zum Beispiel, und doch könnte er genau der richtige sein, um in einen festgefahrenen Konflikt wieder Bewegung zu bringen oder ein Problemmuster zu knacken. Darum geht es in unserem Buch. Wie kooperieren wir mit diesen Menschen, die im Leben unserer Klient:innen oder Schüler:innen – egal wie alt – wichtig sind? Wie gewinnen wir sie, vor welche neuen Herausforderungen stellt uns das und inwiefern verändert das auch unser Selbstverständnis als Fachkräfte? In dem Buch erzählen 13 Autoren und Autorinnen aus 8 Ländern, wie sie arbeiten, welche Erfolge sie haben und wie dadurch dieses Dorf wieder spürbar, lebendig und hilfreich wird – übrigens auch im Interesse der Dorfbewohner:innen – um im Bild zu bleiben –, die immer auch mitleiden und gern behilflich sind, wenn sie erfahren, worin ihre Hilfe gewünscht wird.


Die Liste der Ansätze und der beteiligten Autorinnen und Autoren, die Ben und du zusammengeführt haben, liest sich wie ein Who is Who der neuen und vielversprechenden Ansätze in den angesprochenen Feldern. Justine van Lawick, Eia Asen, Idan Amiel, Thomas Pletsch, Erzsébet Roth, Sue Young – um nur einige zu nennen – und last not least du und Ben Furman. Welche Ansätze kommen hier zusammen? Und wie kann man deren Erfahrungen und Kräfte nutzbringend synchronisieren?


Das Buch widmet sich dem gemeinsamen Nenner solcher Konzepte wie der Mehrfamilienarbeit, Neue Autorität, Familienrat, Restaurative Justiz und Open Dialogue, um nur einige zu nennen. Ben hat mal einem seiner Vorträge den Titel gegeben: "Community" ist die neue Familie oder Familientherapie war gestern - Community Therapy ist heute. Vor 50 Jahren war die Familientherapie oder auch systemische Therapie eine Innovation in der Psychotherapie. Damals verlagerte sich die Aufmerksamkeit vom Individuum auf das System, den Kontext des sogenannten Index-Klienten. Dieser wurde als Mitglied des Familiensystems gesehen. Mit Genogrammen wurden die Großfamilie und sogar frühere Generationen einbezogen. Und jetzt erleben wir wieder einen Trend in der Sozialarbeit, Therapie und auch Schule. Eine Verschiebung weg von der Familie hin zur Gemeinschaft. Besonders spannend finde ich den Aspekt, wie das unsere Rolle als Fachkräfte verändert. Das ist ein Paradigmenwechsel weg von dem Selbstverständnis, wir seien die Expert:innen und wüssten, was unseren Klient:innen hilft! Eia Asen verwendet oft das Bild: Familien als Experten, Therapeuten auf dem Rücksitz. Ich sage allen Eltern, die ihre Kinder zur Therapie anmelden, es ist eine Gemeinschaftsarbeit. Ich brauche sie als Eltern und ich bin auch für sie da! Also: Klar sind und bleiben wir auch wichtig, aber auf andere Weise. Wir sind wichtig als diejenigen, die Kontexte schaffen, und miteinander nach Möglichkeiten suchen, Gegenwart und Zukunft so zu gestalten, wie es heute gewünscht wird und bisher noch nicht gelungen ist. In diesem Prozess brauchen wir einander, und wir dürfen nicht vergessen, dass wir nur für kurze Zeit am Leben unserer Klient:innen teilhaben wollen. Daher ist es so wichtig unseren Job so zu begreifen, dass wir Netzwerke und Gemeinschaften stärken, die zukünftig neuen Halt geben können. Das ist der Kit aller Beiträge in dem neuen Buch mit Fallbeispielen bei Mobbing in der Schule, akut psychotischen Krisen, bei Gewalt in Familien, verzweifelten Eltern, oder in Familien, in denen Kinder in der Klemme stecken, weil sich ihre getrennten Eltern gegenseitig verteufeln und das Streiten nicht lassen können.


Du bist vielfältig beschäftigt und gefragt als Berater, Organisator, Ausbilder. Beginnen wir mit „Organisator“: Du bereitest mit anderen – wieder einmal, du hast es schon des öfteren getan – einen spannenden Kongress vor. Erzähl uns bitte davon: Worum geht es? Wer ist dabei? Und: Wann und wo wird er stattfinden?


Der Kongress findet im Mai 2022 mitten in Berlin-Prenzlauer Berg statt. Er ist zum einen so etwas wie eine Book-Release-Party. Schwerpunkt sind also innovative Methoden der Gemeinschafts- und Netzwerkarbeit mit Familien. Voraussichtlich werden alle 13 Autoren und Autorinnen in Berlin sein und jewiels einen 4-stündigen Workshop über ihre Arbeitsansätze machen. Andererseits ist es der mittlerweile schon 6. »System & Körper« Kongress, den wir als Berliner GST als eine Plattform für Vernetzung, Wissens- und Erfahrungsaustausch organisieren. Hier ist traditionell die Arbeit mit dem Körper als Ressource eine weitere Säule. Insgesamt wird es 30 Workshops geben von jungen und erfahrenen Referent:innen, die ganz praktisch die große Vielfalt erlebnis- und erfahrungsorientierter Methoden zeigen, die sowohl den eigenen Körper als auch soziale Netzwerke als Ressourcen in die Systemische Praxis integrieren.


Du hast das Berliner Zentrum für Präsenz und Kompetenz in Beziehungen (PUK) mitbegründet. Ein Zentrum zur Stärkung der Arbeit mit Mehrfamiliengruppen und Gemeinschaftsnetzwerken. Also ganz im Sinne dessen, um was es in dem neuen Buch geht. Und du bist u. a. Lehrender und Supervisor für die Gesellschaft für Systemische Therapie und Beratung Berlin (gstb). Was ist aus deiner Sicht bei der systemischen Aus- und Weiterbildung von Fachleuten für alle Kontexte, die wir vorhin ansprachen, besonders wichtig bzw. unverzichtbar?


Ich würde sagen: Das ist mehr denn je das Menschenbild und die Reflexion unserer Haltung, mit der wir arbeiten. Es sind nicht unserer Methoden und unser Wissen, das heilende Wirkung hat, sondern wie es uns gelingt, miteinander auf Augenhöhe in Beziehung zu sein. Damit uns das gelingt, brauchen wir Respekt und eine anerkennende Wertschätzung gegenüber der Person – keinen erhobenen Zeigefinger oder Besserwisserei. Es braucht Vertrauen in sich und den anderen, Präsenz und Achtsamkeit für das, was im Hier und Jetzt, in der Situation Bedeutung hat. Das ist nicht immer planbar oder kontrollierbar. Daher müssen auch wir loslassen, improvisieren wie beim Tanz. Wir sind Meister des Prozesses. Es geh um Resonanzphänomene und Synchronizität, damit wir uns begegnen, ermutigen und inspirieren können, Neues zu wagen. Für Veränderungen brauchen wir Mut und Energie.


Was macht das PUK? An wen können sich Familien wenden, die Hilfe suchen und vielleicht schon am Rande der Erschöpfung sind? Worauf sollten sie bei der Suche nach professioneller Hilfe besonders achten?


Das PUK hat seine Wurzeln in der Jugendhilfe. Es versteht sich als Zentrum für Konzepte der sozialen Arbeit und Therapie, das seinen Fokus auf das Arbeiten mit Mehrfamiliengruppen, sozialen und professionellen Unterstützer-Netzwerken legt. Dafür kooperieren wir international mit einigen der Autoren des Buches. Wir sehen Eltern als Experten für ihr Kind und unterstützen sie durch unsere systemisch wertschätzende, unvoreingenommene Haltung. Wir ermutigen sie, sich Unterstützung zu holen, Neues auszuprobieren, eigene Ressourcen zu entdecken und sich selbst mehr zuzutrauen. Sie können uns ja die Verantwortung nicht abgeben, und damit lassen wir sie eben nicht allein. Wir sind gern Partner für Kolleg:innen in Kitas, Schule und Jugendhilfeeinrichtungen, die ihren Fokus Richtung Netzwerk- und Gemeinschaftsarbeit erweitern möchten. Und wir machen aktuell Weiterbildung für Multifamilientherapie und das großartige Programm Kinder aus der Klemme für Eltern in eskalierten Trennungskonflikten.


Was würdest du dir noch mehr wünschen für die professionelle Entwicklung psychotherapeutischer und beraterischer Theorie und Praxis? Und: Gibt es auch Dinge, die zu befürchten und ggfs. zu vermeiden wären?


Zum einen glaube ich, dass wir Forschung brauchen, um die Wirksamkeit solcher Ansätze verbessern und gut belegen zu können. Dann glaube ich, dass die Anerkennung der Systemischen Therapie wichtig war, damit solche Ansätze auch in der Ausbildung mehr Aufmerksamkeit bekommen und weiterentwickelt werden. Gleichwohl würde ich mir wünschen, dass wir nicht nur hin zu einer Allgemeinen Psychotherapie kommen, sondern - wie Rainer Schwing es formuliert – ruhig auch kräftig an dem Mythos Psychotherapie kratzen dürfen. Ganz im Sinne des Buchtitels „Die Kraft des Miteinander“ wünsche ich mir eine ganzheitliche Sichtweise der menschlichen Entwicklung, Krisenbewältigung und Veränderung problematischer Muster, und die Anerkennung der heilenden Wirkung eben auch durch Sozialarbeit und Pädagogik. Zu befürchten wäre dementsprechend eine Zersplitterung schulenbezogener Fachrichtungen. Und eines ist mir noch wichtig: Gemeinschafts- und netzwerkorientierte Ansätze dürfen von öffentlicher Seite nicht als Sparmodell missbraucht werden. Die Kontextarbeit erlebe ich als hochwirksam, aber auch sehr zeitintensiv. Hier braucht es auch die finanziellen Ressourcen dafür.


Wir befinden uns aktuell nach wie vor in sehr besonderen Zeiten mit besonderen Herausforderungen und auch Belastungen, psychischen, körperlichen, gesellschaftlichen. Was fällt dir besonders auf? In deiner beruflichen Praxis? In anderen gesellschaftlichen Kontexten? – Und: Was würdest du dir und unserem gesellschaftlichen Miteinander wünschen?


Was ich unserem gesellschaftlichen Miteinander wünschen würde? Mehr Zusammenhalt, Bezogenheit. Ich bin überzeugt, dass die Zivilgesellschaft da schon sehr viel weiter ist, als das in der öffentlichen Wahrnehmung rüberkommt. Und gerade wir, die wir professionell mit Menschen arbeiten, sollten Vorbilder dafür sein, im Dialog miteinander zu kooperieren – dieses „Sowohl … als auch“ hinzubekommen, und mit Vielstimmigkeit umgehen zu können.


Gab es eine Frage (oder ein Thema), die (oder das) du hier gewünscht hättest, oder was sich im Gespräch ergeben hat, die (oder das) aber nicht gestellt oder angesprochen wurde? Möchtest du dir selber noch eine Frage vorlegen? Noch ein Thema ansprechen?


Vielleicht ein dir wichtiges Statement abgeben? Ich freue mich sehr über die Resonanz auf das Buch. Mein Gefühl ist, dass das Thema zwar nicht neu ist, aber gerade jetzt gute Chancen hat, viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Dann können wir gemeinsam viel bewegen. Und es macht Spaß, mit dabei zu sein.