Erinnerungen an Humberto Maturana: Kurt Ludewig

Biologie, Liebe, Humanismus. Zum Todestag eines Freundes.


“La amistad es una forma del amor”. H. Maturana R., 1985


Diese Widmung (Die Freundschaft ist eine Form der Liebe) hat mir Humberto 1985 in das Exemplar des Buches “El árbol del conocimiento” (Der Baum der Erkenntnis) geschrieben, das ich auf Anregung von Francisco Varela als Grundlage für dessen Übersetzung ins Deutsche verwendet habe. Daran musste ich unwillkürlich denken, als ich überlegte, auf welche Weise ich zum Ableben eines Freundes einen freundschaftlichen Nachruf verfassen sollte.


Über ihn hörte ich zum ersten Mal bei der damals bahnbrechenden und mittlerweile legendären Tagung des Zürcher Instituts für Ehe und Familie im Herbst 1981. Ein Hauptredner, Paul Dell, unternahm in seinem Vortrag gewissermaßen eine Frontalattacke gegen die mittlerweile selbstverständlich gewordenen Konzepte der Familientherapien und bezog sich dabei auf zwei Neurobiologen, deren Namen ich bis dahin noch nie gehört hatte: Maturana und Varela. Aus welchen Gründen immer nahm ich intuitiv an, dass es sich um chilenische Landsleute handeln müsste. Im Anschluss an seine Rede hat mir Paul das bestätigt.


Die geäußerten Gedanken haben mich total beflügelt, denn ich hatte in Hamburg angefangen, in eine ähnliche Richtung zu denken, allerdings ohne über das dafür notwendige Fundament zu verfügen. Ein Jahr später erschien im Vieweg Verlag eine erste ins Deutsche übersetzte Zusammenfassung der bis dahin wichtigsten Arbeiten dieser Forscher unter dem Titel “Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit”. Ich machte mich sofort daran, diesen revolutionären Gedankenkomplex zu studieren, der das allzu etablierte objektivistische Denken im wissenschaftlichen Diskurs grundsätzlich revidierte. Redlicherweise muss ich gestehen, dass ich, obwohl ich dabei eine Ahnung von dessen enormer Tragweite bekam, mich damit unglaublich schwer tat. Die vorgeschlagenen Auffassungen des Lebens, der Kognition und der Sprache waren für mich, der nolens volens in bester objektivistischer Tradition der akademischen Psychologie ausgebildet war, derart neu und herausfordernd, dass ich viel Zeit und Geduld aufbringen musste, um das grundsätzliche Umdenken, das hier zugrunde gelegt wurde, langsam nachzuvollziehen.


Ich hatte aber sozusagen Lunte gerochen. Trotz finanzieller Engpässe und unter Umgehung mancher Hindernisse setzte ich alles daran, um bei der Tagung, die Karl Tomm in Calgary, Kanada, organisiert hatte, teilzunehmen. Die Epistemologen Humberto Maturana und Heinz von Foerster sollten die live-Arbeit der prominenten Familientherapeuten der Mailänder Schule, Luigi Boscolo und Gianfranco Cecchin, beobachten und darüber reflektieren. Mir gelang es, durch Unterstützung der Universität Hamburg dahin zu fliegen und Humberto persönlich kennen zu lernen. Bei einem ausgedehnten Spaziergang in der kanadischen Kälte haben wir eine Freundschaft geknüpft, die sich über ein paar Jahrzehnte erstreckte. In der Zeit sind wir uns im Kontext unterschiedlicher Gelegenheiten begegnet, ob im offiziellen Rahmen etwa auf Einladung des Instituts für systemische Studien (ISS) in Hamburg oder bei Tagungen in Deutschland, Spanien und Chile oder auch persönlich sowohl in Hamburg als auch in Santiago. Erst ab 2004 dünnte sich unser Kontakt zum Teil wegen der Distanz, des zunehmenden Alters, anderweitiger Verpflichtungen Maturanas und mancher Schicksalsschläge langsam aus. Mit der Zeit wurde unsere Korrespondenz leider immer kürzer und seltener, zu einer persönlichen Begegnung kam es nicht mehr.


In der Anfangszeit war es uns im ISS bereits in Januar und Februar 1985 gelungen, jeweils Francisco Varela und Humberto Maturana zu Vorträgen und Seminaren nach Hamburg einzuladen. Da sich unser Institut gerade im Werden befand, verfügten wir nicht über die Mittel, um unsere Gäste in Hotels unterzubringen. Es bot sich an, sie bei mir zu Hause in Norderstedt bei Hamburg zu beherbergen. Bezogen auf Humberto war das eine einmalige Chance, uns noch persönlicher kennenzulernen. Im Februar 1985 ergab es sich sogar, dass er sich am Faschings-Geburtstagsfest meines damals siebenjährigen Sohns beteiligte. Davon haben wir noch ein nettes Foto, auf dem Humberto inmitten verkleideter Jungs zu sehen ist.


Bei der Tagung in Calgary hatte ich zum ersten Mal von Humberto gehört, wie er über Liebe sprach. Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass mir dieses Thema im Kontext eines sonst eminent wissenschaftlich gehaltenen Vortrags deplatziert vorkam, gewissermaßen arg südamerikanisch, geradezu mit Tango-Anklängen. Alles andere, was er vortrug, erschien mir nicht nur wesentlich anschlussfähiger, sondern geradezu sensationell innovativ und begeisternd.


Nun ergab es sich, dass Humberto bei diesem ersten Besuch in Hamburg eine Pause an einem Nachmittag nutzte, um in unserem Gästezimmer einen Aufsatz handschriftlich auf English zu verfassen, der mich für dieses Thema öffnete. Ich habe ihn auf Deutsch übersetzt, und er erschien im Juli 1985 bei Jürgen Hargens in der Zeitschrift für systemische Therapie unter dem Titel “Reflexionen über Liebe”. Bezeichnenderweise beginnt er diesen Aufsatz im zufälligen Bezug auf meine Skepsis folgendermaßen: “Immer, wenn ich über Liebe spreche, wird meine Zuhörerschaft, wie auch immer sie sich zusammensetzt, unruhig. Liebe ist ein gefährlicher Begriff. Offenbar denken wir gewöhnlich, Liebe sei zu menschlich, als dass sie den Reflexionen eines Wissenschaftlers zugänglich wäre. Aber ist es in der Tat so?”.



Liebe geschieht nach Maturana, wenn einem anderen Raum für seine Existenz in Koexistenz geöffnet wird. Sie sei Ausdruck einer spontanen biologischen Kongruenz, die keiner rationalen Rechtfertigung bedürfe: “Liebe ist da, weil sie da ist und sie besteht so lange, wie sie besteht”. Für ihn ist Sozialisation das Ergebnis des Wirkens von Liebe. Seinen kurzen Aufsatz, dessen Thematik er einiges später mit dem Begriff des Emotionierens ergänzt, beendet er wie folgt:


“Dies ist keine Ehrenrettung der Liebe. Dies ist eine Aufforderung, über die biologische Bedingung nachzudenken, die an der Basis der Menschlichkeit steht. Es geht mir nicht einmal darum, Liebe zu empfehlen. Ich sage nur, dass es ohne Liebe als spontanes biologisches Phänomen keine Sozialisation gibt – und sie ist im menschlichen Leben alles andere als trivial”.


Damit hatte er mich für sein Verständnis restlos gewonnen. Ich habe diese Gedanken übernommen und sie später um die Dualität von Lieben und Liebe erweitert, wonach ich Lieben eine einseitig gerichtete Zuwendung und Liebe als das auffasse, was zwischen mindestens Zweien geschieht, also im Sinne Luhmanns als Kommunikation.


Darüber habe ich mit Humberto bei einer unserer letzten Begegnungen beim Spazieren am Ufer der Elbe unter anderem diskutiert. Er hörte sich das an, fand es interessant, war aber nicht bereit, bei dieser gedanklichen Wendung mitzugehen. Dieser Dissens hat unserer Beziehung nicht geschadet.


Nun ist dieser Mensch, dieser Freund, eigentlich ein Menschenfreund von uns gegangen, hat aber ein unschätzbar menschliches Vermächtnis hinterlassen. Wenn Liebe das ist, was Menschen Menschen sein und werden lässt, dann ist sie unvergänglich. Der Mensch, der Beobachter verlässt uns, die Liebe bleibt.


¡Adiós, amigo! Du wirst nicht vergessen!


Literatur


Maturana, H.R. (1982): Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig (Vieweg).


Maturana, H.R. & F.J. Varela (1984), El árbol del conocimiento. Santiago de Chile (Editorial Universitaria). [Deutsch (1987): Der Baum der Erkenntnis. München (Scherz)].


Maturana, H.R. (1985), Reflexionen über Liebe. Zeitschrift für Systemische Therapie 3: 129-131.