Brief 15 - Elektrotechnische Signale menscheln nicht - von Andrea

Liebe Sophia!
Lieber Leser*In!


Wir haben im Briefe-Blog zu Watzlawicks 100. Jubiläums-Geburtstag die vorangehenden Monate schon zentrale Aspekte erörtert; ganz besonders freue ich mich jetzt, Aspekte der Kommunikations-Theorie von Watzlawick und Kollegen – mit Dir, Sophia und Deinem Blick aus einer (interkulturellen) Brille einer Studentin mit Online-Corona-Kontext-Erfahrung – zu besehen.


Wir kennen uns durch ein kurzes Telefonat – Du hattest von Watzlawick im Psychologie-Unterricht in der Schule in Freiburg gehört und studierst jetzt Liberal Arts and Science in Freiburg im dritten Semester.


Eine neue Kommunikation; oder: Elektrotechnische Signale menscheln nicht


Die fünf Axiome der menschlichen Kommunikation sind von Watzlawick/Beavin/Jackson in den 1960ern im Silicon Valley formuliert worden (P. Watzlawick/J.H. Beavin/D.D. Jackson, Menschliche Kommunikation, Verlag Hans Huber/Hogrefe, Bern 1974); Paul Watzlawick schreibt als Hauptautor Kapitel 1, 3, 6, 7 und den Epilog, Kapitel 2 entsteht gemeinsam mit Janet Bavelas; sie verfasst die anderen Kapitel, Don Jackson steuert seinen prominenten Namen bei, so beschreibt es Janet Beavin (in: „Writing with Paul“, 2007 unter: http://web.uvic.ca/psyc/bavelas/Publications.html). Damals war der Begriff der Kommunikation neu. Man kannte die formale Rhetorik der Griechen als effektives, öffentliches Sprechen mit klarer Intention gegenüber dem „Forum“, dem Zuhörer; und die nachrichtentechnische, signal-orientierte Informationstheorie von Shannon/Weaver der 1950er vor dem Hintergrund der Bedeutung der Nachrichtenübertragung im 2. Weltkrieg war geläufig; vorherrschend war der Aspekt, wie Signalübertragung richtig funktionieren (Code, Kanäle, Kapazität, Rauschen, Redundanz und andere statische Eigenschaften der Sprache syntaktischer Natur vgl MK I.I.) sollte.


Ganz anders auf einmal der neue Fokus der „Menschlichen Kommunikation“, die sich den pragmatischen, d.h. verhaltensmäßigen Wirkungen, insbesondere Verhaltensstörungen, widmete. Die Axiome entstanden im Forschungskontext von beobachtbaren Verhaltensstörungen von Kommunikation – dort, wo es mehrdeutig und undeutlich menscheln kann, bis hin zu sogenannten „Pathologien“ wie der (dingifiziert be“label“ten) Schizophrenie. Im Fokus sind hier diverse Aspekte in unzähligen Kombinationen von kommunikativen Situationen: face-to-face, phatic (i.e. smalltalk), naturally occuring (i.e. conversations), informal (i.e. gossip or slang), spontaneous (i.e. libs or joking), illogical or ambituous (i.e. equivocation), implicit (i.e. indirect speech acts), unsuccessful or frustrating and nonverbal (see Bavelas, J.B. (1990). Behaving and Communicating: A Reply to Motley; Western Journal of Speech Communication, 54, S. 593-602); Es geht nicht um das Thema Mensch und Technik, wie es mE mit ähnlichen und neuen Fragestellungen heute oft bei Social Media-Themen und Online-Corona-Kommunikation wieder in einem Brennpunkt steht, sondern im Fokus steht das beziehungsgestaltende und zwischenmenschliche Verhalten.


Man kann nicht nicht kommunizieren – in einer sozialen Situation


2021 – und Sophia, Du lebst in Deutschland mit Smart Phone und Laptop in einer FANGA-Welt mit starken Werbeinteressen und Social Media-Algorithmen. „Man kann nicht nicht kommunizieren“ haben die Autoren das 1. Axiom in den 60ern postuliert; es entstand maßgeblich im Kontext des Double-Bind-Papers 1956 von Bateson/Jackson/Haley/Weakland (G. Bateson, D. D. Jackson, J. Haley und J. H. Weakland, Auf dem Wege zu einer Schizophrenie Theorie (Towards a Theory of Schizophrenia) - Behavioral Science, vol. I : 251-264, 1956); und es entstand – auch in Abgrenzung zum damals dominanten (freudschen) Psychoanalyse-Mindset – mit der Präzisierung: Man kann nicht nicht kommunizieren – in einer inter-aktionalen Situation (MK 2.21 und 2.22) mit Mitteilungscharakter, d.h. in einer Situation von mindestens zwei Personen, wo die Beteiligten (in Abgrenzung zu bspw. einer virtuellen Face-to-Face-Online-Videosituation) die Möglichkeit haben, sich Aug-in-Aug ansehen zu können, weil sie sich real in einem gemeinsamen „Präsenz-„ (zeitlich) bzw. vielmehr „On-site-(räumlich)Raum“ befinden: bspw. möchte ein Kind in einer mehrpersonalen Familientherapie-Sitzung zu einem Familienmitglied nicht parteiisch Stellung beziehen und schweigt verbal, d.h. versucht, kommunikativ nichts zu sagen; oder eine Person in einer öffentlichen Wartehalle oder im Flugzeug hält die Augen geschlossen, um zu signalisieren, dass sie nicht angesprochen werden möchte.


Ha! Er hat nicht geantwortet! – Das bedeutet (grülipf)!


Ich betone das, weil das 1. Axiom immer wieder auf Situationen angewandt wird, wo ein Gegenüber mit seinem Verhalten nicht inter-personal im Hier-und-Jetzt präsent ist, sondern ein Verhalten dieses Menschen in seiner Abwesenheit von jemandem intrapsychisch interpretiert wird, zum Beispiel: „Der andere hat nicht auf die E-Mail geantwortet ... – man kann nicht nicht kommunizieren …“ und quasi dieser Nicht-Antwort einer abwesenden Person eine Bedeutung unterstellt wird (iSe inneren Dialoges, vgl Fußnote zu MK 2.22 Dialoge zu Introjektionen) „Ha! Er hat nicht geantwortet! – Das bedeutet (grülipf)!“. Diese Situationen umfasst die Pragmatik (in Anlehnung an die von Morris und Carnap entwickelte Semiotik) der Menschlichen Kommunikation gerade nicht – Watzlawick betont (z.B. im Vorwort zur deutschen Ausgabe der MK) immer wieder, dass sie auf beobachtbares Verhalten (oft im Kontext der Psychotherapie bzw. Psychopathologie) abstellt und sich gegen die monadische Auffassung vom Individuum und der ehrwürdigen wissenschaftlichen Methode der (beliebigen) Isolierung von Variablen richtet; es geht vielmehr um Beziehung zwischen den Einzel-Elementen (the „in-between“) größerer Systeme und patterns of interaction (MK 2.21) und weg von unbeweisbaren (intra-psychischen) Annahmen über die Natur des Psychischen. Kommunikation und Interaktion stützen sich für die Autoren auf Prinzipien der Wechselwirkungen, der Systemlehre und der sogenannten Neubildungen.


Und die inter-aktionalen Pioniere erläutern weiters, dass sich das Material der Pragmatik nicht nur auf Worte, ihre Konfigurationen und Bedeutungen, sondern auch auf alle nichtverbalen Begleiterscheinungen, die sogenannte Körpersprache inbegriffen, bezieht (vgl. MK 2.21); und dass die Rolle des Kontextes, also der Umwelt jeder Kommunikation, wesentlich in Betracht zu ziehen ist. Die Pragmatik beruht auf beobachtbaren Wechselwirkungen menschlicher Beziehungen im weitesten Sinne und ist der traditionellen Psychologie (mit Hang zur monadischen Auffassung und zur Reifikation=Verdinglichung) viel weniger verwandt, als der Mathematik, die sich mit der Beziehung zwischen bzw. Wechselwirkungen von Entitäten beschäftigt.


Sophia, das waren jetzt zahlreiche „Fachvokabeln“ – wie verstehst Du denn das 1. Axiom? Inwiefern erlebst Du es bzw. seine Auswirkungen im Alltag? Du hast Deinen Umgang mit Social Media verändert – gibt es da Erfahrungen mit Bezug zum 1. Axiom? Du kennst zwei unterschiedliche Kulturen – die deutsche und die arabische. Welche Unterschiede sind Dir da mit Blick auf das 1. Axiom eventuell aufgefallen?


Ich bin gespannt auf Deine Sichtweise und Erfahrungen !


Liebe Grüße!
Andrea


 


Sophia Saad
Sophia Saad

ist aufgewachsen und wohnt in Riegel. Schulabschluss Abitur 2019, Aufenthalt im Libanon nach dem Abitur (Familie väterlicherseits). Studienbeginn Liberal Arts and Sciences Wintersemester 20/21. Hobbys: Reiten und Lesen. Derzeit auch in Ausbildung zur Mediatorin.




Andrea Köhler-Ludescher
Dr. Andrea Köhler-Ludescher

Gründerin und Vorsitzende des Paul Watzlawick Instituts (Wien); freie Journalistin und Autorin/Biografin von Watzlawick, ihrem Großonkel; sie ist als hypno-systemische Change Coach, Organisationsberaterin und international Vortragende tätig; mag das Schauspiel und das Schöne, schätzt die Stille und die Stimmung. koehler-ludescher.at/