Sounds of Science / Wiltrud Brächter - Systemische Sandspieltherapie
Die Psychotherapeutin und Autorin Wiltrud Brächter gehört zu den erfahrensten Anwenderinnen der Sandspieltherapie. Über deren Verknüpfung mit Hypnotherapie, Ego-State-Therapie, systemischen und narrativen Ansätzen hat Wiltrud Brächter die Sandspieltherapie höchst innovativ weiterentwickelt und in von ihr geschriebenen und herausgegebenen, praxisfokussierten Publikationen dokumentiert. Ganz aktuell ist ihre Einführung in die systemische Sandspieltherapie in der Reihe Carl-Auer Compact erschienen.
Im Gespräch mit Carl-Auer Sounds of Science beantwortet Wiltrud Brächter Fragen wie: Wo liegen die Wurzeln der Sandspieltherapie? Was ist das Besondere und Wirkungsvolle an narrativ-systemischer Sandspieltherapie? Für welche unterschiedlichen Settings bietet sie sich an? Und – last not least – warum sollte Kindern bei der therapeutischen Auftragsklärung wesentlich mehr Gehör und Gespür zukommen?
Ob im Auto, im Bett, in der Badewanne, mit der Maske im Bus oder im Zug, beim Warten am Bahnhof oder Flughafen, beim Einkauf oder vor der Bank, beim Joggen und Kochen alleine oder mit Partnern: Bleiben Sie wach, mit Carl-Auer Sounds of Science! Und, wo immer es geht, den freien Blick und den freien Geist nutzen: Carl-Auer Bücher lesen, Carl-Auer Wissen nutzen!
Transkription des Interviews
Ohler Liebe Wiltrud Brächter, vielen Dank, dass Sie bereit sind, mit Carl-Auer Sounds of Science ein Gespräch zu führen für unsere Hörerinnen und Hörer.
Brächter Ja, lieber Matthias Ohler, auch ich freue mich auf die Gelegenheit, hier meine Art des Sandspiels vorstellen zu können und freue mich auf unser Gespräch.
Ohler Sie haben jetzt schon einen Aufschlag gemacht: "Meine Art des Sandspiels". Das Da kommen wir dann auch hin, das Spezifische rauszuprofilieren. Aber es gibt da viele, die vielleicht Sandspiel doch noch gar nicht kennen. Vor knapp hundert Jahren, wie ich gelesen habe, war es so, dass die Margaret Lowenfeld eine ganz neue und offensichtlich irgendwie sehr wirkungsvolle Form therapeutischen Arbeitens mit Kindern erfunden hat. Sie selbst sagt, dass es eigentlich die Kinder erfunden hätten. Da können Sie vielleicht noch etwas dazu sagen Es geht um das, was sie "Welt-Technik" genannt hat, wenn ich mich richtig informiert habe. Und heute spricht man vom Sandspiel. Was war die ursprüngliche Idee und wie kam es eigentlich zum Wort "Sandspiel" dann?
Brächter Also Margaret Lowenfeld hat eine der ersten psychologischen Kinderkliniken in den 1920er Jahren in London gegründet und hatte dort die Idee, Kindern Kästen mit Sand, Wasser, Miniaturfiguren zur Verfügung zu stellen, weil sie ihnen eine Möglichkeit geben wollte, ihr Erleben auch ohne Worte auszudrücken. Das war eigentlich dieser Grundansatz von Margaret Lowenfeld. Ihr war diese Ebene des präverbalen Erlebens sehr wichtig. Und sie ging davon aus, dass, wenn man Kindern so eine Möglichkeit nicht gibt, halt ganz viele Bereiche des Erlebens gar nicht mitgeteilt werden können. Die Kinder haben dann erstmal von ihr die Anregung bekommen, Szenen aus ihrem Leben zu bauen. Und Margret Lowenfeld merkte dann aber, dass es wesentlich vielseitiger war und interessanter wurde und tiefer ging, wenn man Kinder einfach ohne thematische Vorgabe frei bauen lässt. Und dabei ist sie dann geblieben. Die Kinder nannten das, was sie dort im Sand gebaut haben: "Wir bauen unsere Welten." Und so kam es dann zu diesem Ausdruck "Welt-Technik". Der Ausdruck "Sandspiel" kam dann durch Dora Kalff. Dora Kalff in den 1950er-Jahren Sandspieltherapie kennengelernt bei Margret Lowenfeld. Sie hat sich bei ihr ausbilden lassen. Sie war Schülerin von C.G. Jung, und die beiden hatten so überlegt, dass es gut sein könnte und das auch die Jungianische Art der Therapie bereichern könnte. So hat sie dann letztendlich dieses Bauen im Sand nach Margret Lowenfeld auch mit der Jungianischen Therapie verbunden, und damit verbunden war dann auch dieses Deuten gemäß der Archetypenlehre, von Symbolen. Was neu dazu kam, war auch, dass Dora Kalff viel Wert gelegt hat auf die Frage: Wie wirkt das, was im Sand gebaut wird, auch wieder zurück? Margaret Lowenfeld ging es viel um den Ausdruck, der gegeben werden kann. Und diese Idee, dass es heilsam ist, innere Bilder nach außen zu bringen, das kam dann durch Dora Kalff dazu, und die beiden haben sich dann geeinigt, dass das nach Dora Kalff, mit Bezug auf C.G. Jung, Sandspieltherapie genannt wird, und Margaret Lowenfeld ist bei dem Begriff Welt-Technik geblieben. Das, was man jetzt üblicherweise als Sandspieltherapie versteht, ist halt Sandspieltherapie nach Dora Kalff. Das ist das, was in der Deutschen Gesellschaft für Sandspieltherapie und der Internationalen Gesellschaft für Sandspieltherapie gelehrt wird.
Ohler Also da geht es dann, wenn ich das richtig verstanden habe, darum, dass es nicht nur eine Ausdrucksmöglichkeit ist, sondern dass man in so einer Art von Dialog oder Interaktion mit dem, was man da ausgedrückt hat, es wieder in sich hinein wirken lässt.
Brächter Ja, eher durch das Anschauen, also eher durch das Betrachten. Es wird nicht unbedingt das, was jetzt beim Miterleben dieser Sandspieltherapie dann gedeutet wird, mitgeteilt, sondern es ist eher ein innerer Prozess der Therapeutin. Da waren sich Margaret Lowenfeld und Dora Kalff einig, dass es eher um so eine Atmosphäre von Offenheit und Aufnehmen geht und alles akzeptiert wird, was im Sand entsteht.
Ohler Okay. – Nach einigen anderen Büchern, die Sie verfasst haben, respektive auch herausgegeben haben, gibt es jetzt aktuell Ihre Einführung in die systemische Sandspieltherapie bei uns im Carl-Auer Verlag. Wir freuen uns natürlich darüber. Und was macht jetzt systemische Sandspieltherapie so spezifisch? Und wie sind trotzdem wohl die Bezüge zur Tradition, also zum Beispiel von Margret Lowenfeld und Dora Kalff, die sie erwähnt haben? Was ist das Spezifische und wo sind Verbindungen?
Brächter Also erst einmal nähere ich mich diesen Sandbildern aus konstruktivistischer Sicht. Also aus systemischer Sicht würde man ja Sandbilder jetzt nicht in dem Sinne "deuten". Es gibt eine große Nähe zum Konzept von Margaret Lowenfeld. Margaret Lowenfeld hat damals schon, finde ich, sehr weit den Ideen der systemischen Therapie vorausgegriffen. Sie hat Kind und Therapeutin als gemeinsam Forschende bezeichnet, also so, dass, wenn das Sandbild fertig ist, man dann gemeinsam mit dem Kind im Dialog überhaupt herausarbeitet, was dieses Gebaute für das Kind bedeutet. Da war sie auch sehr nah an diesen narrativen Ansätzen, dass eigentlich aus dem Dialog die Bedeutung geschaffen wird. Und sie hat sich auch sehr dagegen verwandt, die Sandbilder durch ein therapeutisches Raster zu filtern. Also ganz im Gegensatz zu Melanie Klein. Das war ja eine Zeitgenossin von ihr, die in der analytischen Spieltherapie sehr sehr engmaschig und auch triebtheoretisch gedeutet hat. Margaret Lowenfeld hat komplett darauf verzichtet und ist davon ausgegangen, dass es darum geht, dem Kind zu helfen wirklich die Sicht des Kindes und das Verständnis des Kindes selbst in Worte zu fassen. Ich habe dann diesen narrativen Ansatz im Sandspiel entwickelt. Das heißt, dass ich noch über das reine Bauen von diesen Sandbildern hinausgegangen bin. Und da ist es auch wieder so, dass die Kinder an der Methode sehr viel Anteil hatten. Viele Kinder wollten einfach auch weiter spielen mit dem Gebauten, und das fand ich auch sehr sehr hilfreich. Weil das, was im Sand entsteht, gerade zu Therapiebeginn, sind oft wirklich Problembilder. Mir kam das vor wie so eingefrorene Problembilder, in der Problemtrance gebaut, und durch diese Frage "Wie wird das weitergehen, wenn es eine Szene aus einem Film wäre oder ein Moment in der Geschichte? Wie würde diese Geschichte, wie würde dieser Film weitergehen?" rege ich dann dazu an, wirklich aus diesen Problembildern raus Richtung Zukunft, Richtung gewünschter Zukunft zu bauen? Da gibt es dann auch diese starke Parallele, finde ich, zur hypnosystemischen Therapie, aus dem Problemzustand heraus in das gewünschte Erleben zu gehen. Und ich habe angefangen, das Setting zu öffnen, das nicht mehr so hinter geschlossener Tür zu halten wie es sonst in der Kinder-Therapie in der Regel gemacht wird, sondern ich habe, wenn die Kinder das auch selber wollten, auch Eltern eingeladen, die Standbilder anzuschauen und habe auch gemeinsam mit Kindern und Eltern im Sand gebaut und mit ihnen gemeinsam Geschichten entwickelt. Und eine weitere Möglichkeit sind diese Familienskulpturen, die üblicherweise auf dem Familienbrett gebaut werden in der systemischen Therapie, auch in den Sand zu verlagern. Das gibt noch mal eine ganz andere Ausdrucksqualität, weil man ja auch diese Sandfläche dazwischen hat, die gestaltet werden kann, wo es Hindernisse geben kann oder unterschiedliche Klimazonen. Ja, das ist eine Möglichkeit, Kinder toll einzubeziehen und wirklich aktiv mit ins familientherapeutische Geschehen zu bringen.
Ohler Das wird ganz klar jetzt, wo diese Bezüge sind zu anderen Ansätzen, innerhalb derer diese Sandspielethode eingesetzt werden kann. Ich will noch mal ganz konkret nachfragen. Natürlich kann man das in der Einführung alles dezidiert lesen, mit Fallbeispielen und was man da alles machen kann. Aber wenn man jetzt noch so gut nichts vom Sandspiel weiß, wie kann man sich dann eine Vorstellung machen, worum es dabei geht und was sich da eigentlich abspielt? Also dass man eine Vorstellung hat: Was passiert denn da eigentlich? Da ist ein bisschen Sand, da sind irgendwelche Figuren, was wird da gemacht?
Brächter Wenn ich das Sandspiel anleite, erkläre ich immer, dass man in diesen Kästen bauen kann. Da grenze ich das, wenn ich mit Kindern arbeite, vom Spielen ab, rege an, da drin was zu bauen und kündige auch an, dass ich ein Foto mache, wenn es soweit fertig gebaut ist. Dass erstmal wirklich dieses konzentrierte Bauen, wie es auch in der klassischen Sandspieltherapie geschieht, nicht verloren geht. Und das ist halt ein Prozess, der sehr stark auch mit Trancezuständen verbunden ist, wenn Kinder sich darauf einlassen – oder auch Jugendliche und Erwachsene sich darauf einlassen – wirklich schweigend zu bauen, erstmal mit den Händen Kontakt zum Sand aufzunehmen. Dann kommt man an Ebenen des Erlebens, die ja im Gespräch üblicherweise nicht so schnell erschlossen werden können. Üblicherweise gibt es zwei Kästen, einen mit trockenem Sand, einen mit angefeuchtetem Sand, sodass dass man auch unterschiedliche Qualitäten des Bauens hat. Ich rege dann auch sehr dazu an, erst mal wirklich mit den Händen in den Sand zu gehen und zu schauen, was entsteht, wenn man den Sand formt. Was bildet sich da vielleicht schon für eine Grundlage, auf der man die Figuren platzieren kann? Und dann, wenn es dann soweit fertig gebaut ist, setze ich mich neben das Kind, so dass wir wirklich gemeinsam drauf schauen und diesen gemeinsamen Fokus haben. Und dann beginnt dieses Erkunden: Was ist dort los? Wie geht es den Figuren? Dann kann man diese ganzen systemischen Fragetechniken einbauen, nach Hilfsfiguren, nach dem gewünschten Erleben, was man den Figuren wirklich wünschen würde und wie man dort hinkommen könnte. Das ist auch ein besonderer Moment. Es ist ja so, man ist noch ganz verbunden mit dieser Szene, die man gebaut hat. Und gleichzeitig kann man dann von außen drauf schauen. Und aus dem Moment heraus entsteht dann diese Fortsetzung in der Geschichte. Und Kinder haben dann oft wirklich sehr schnell eine Idee, wie es weitergehen könnte, und setzen das um und bewegen dann ja auch selbst die Figuren. Ich denke, von daher werden auch diese neuen Ideen, wie es sein könnte, sehr wirkungsvoll geankert. Durch dieses Selber-Spielen und -Umsetzen. Es ist wie so eine Art Probehandeln im Sand, was manche dann auch wirklich relativ schnell in die Wirklichkeit umsetzen kann.
Ohler Man muss es quasi auch nicht in sich selber alles abbilden? Man hat etwas außen?
Brächter Genau. Und man hat den gemeinsamen Fokus. Man hat wirklich jemanden an seiner Seite, sodass es auch gehalten wird. Man hat einerseits den Rahmen des Sandkastens immer mit im Blick, die haben so ein Maß, damit man gut davor sitzen kann und immer den Rahmen sieht, so dass es auch nicht so überflutend ist. Je nachdem, welche Themen sich dann noch zeigen.
Ohler Es gibt wohl einige Kontexte, in denen sich das Sandspiel ganz offensichtlich sehr bewährt hat – das kann man auch in den anderen Büchern nachlesen, und auch in der Einführung – und es bewährt sich weiter; also was ich gelesen habe bei traumatisierenden Erfahrungen, Trauer, Trennungen, Kindern mit psychisch erkrankten Eltern, um nur einige zu nennen. Gibt es eigentlich unterschiedliche Variationen, wie man vorgeht, anfängt, oder was man anbietet, je nach einer Symptomatik?
Brächter Also ich finde es bei Trauma sehr wichtig, sehr präsent dabei zu sein, schneller zu sein. Da ist auch eine Tempo-Frage. Mir ist es ja immer sehr wichtig, dass die Kinder ihre eigenen Lösungen auch finden. Von daher bin ich beim üblichen Begleiten von Sandbildgeschichten relativ zurückhaltend, gebe manchmal Ideen rein, aber halte mich eher im Hintergrund, während ich bei Trauma einfach noch mal schneller nach Hilfsmöglichkeiten frage. Und das gute bei Sandspiel ist ja, dass sich bei Kindern auch sehr frühe Ereignisse, die gar nicht mehr bildhaft erinnert werden können, im Sandspiel atmosphärisch zeigen. Es ist dann nicht genau eins zu eins das Erlebte, aber es ist einfach etwas, was dem entspricht. Und man bekommt es dann auch mit, je nachdem, wie die Kinder davorsitzen, wie die einfrieren oder ihnen ein Schauer über den Rücken läuft. Und dieses übliche Vorgehen, einfach zu fragen "Wie kann die Geschichte jetzt weitergehen? Was könnte helfen?", das einfach noch ein bisschen beschleunigter, bringt ja schon raus aus diesem schlimmen Zustand, in dem man normalerweise nach Traumatisierungen stecken bleibt. Da ist ja oft dieses Einfrieren in diesem schlimmsten Moment. Und allein dieses Weiterspielenkönnen Richtung Lösung löst da schon viel auf. Auch wenn jetzt konkrete Szenen sich so reinszenieren im Sandspiel bei Trauma, dann arbeite ich erst mal mit Spielstopp und frage dann ganz klar: Wer kann zur Hilfe kommen? Wer kann sagen, dass man das nicht tun darf? –Heißt also: Wer kann den Täter auch konfrontieren – und bin da dann auch sehr direktiv in Richtung: Jetzt muss jemand kommen. Also nicht einfach: "Könnte jemand kommen?", sondern "Wer ist es?" Das Sandspiel ist für Trauma ganz besonders geeignet, finde ich, dadurch, dass man einerseits sehr verbunden ist mit diesem traumaassoziierten Anteil, wie er sich ja im Sandspiel zeigt in diesen bedrohten Figuren, und dass man gleichzeitig aber auch eine Beobachterposition einnehmen kann und von außen draufschauen. Gunther Schmidt redet ja von der kraftvollen Steuerposition, die er so wichtig findet bei Menschen mit traumatisierenden Erfahrungen. Und wenn Kinder dann wirklich selber eine Figur in die Hand nehmen und dann dafür sorgen, dass diese Traumaszene beendet wird, also dass die bedrohte Figur, verletzte Figur wieder befreit wird und in Sicherheit gebracht wird, ich denke, das ist etwas sehr Kraftvolles. Bei anderen Themen, zum Beispiel bei Kindern psychisch erkrankter Eltern, da finde ich wichtig, sich klar zu machen, dass es einen Unterschied gibt in der Qualität der Spielbegleitung. Also Kinder, wo es eher um innere Blockaden geht, können sehr schnell Richtung Lösung spielen. Aber bei Kindern in Familien mit sehr vielschichtigen Problemen, da hat dieses Dabeisein eine andere Ausrichtung. Konrad Grossmann unterscheidet da zwischen Geschichten der Progression und Geschichten des Überlebens. Und ich denke gerade bei Geschichten des Überlebens von Kindern, wo ein Elternteil psychisch erkrankt ist, so zeigen zu können, wie sie sich eigentlich damit fühlen, da geht es dann eher um dieses Mittragen, diese emotionale Anteilnahme, was ja auch die Resilienz-Forschung zeigt, dass das sehr wichtig ist, und dass da jemand ist, der das überhaupt mitbekommen kann, und das Kind mit diesem Erleben nicht so allein sein muss. Und bei anderen Themen gibt es dann noch mal spezielle Techniken, zum Beispiel bei Trauer, dass man etwas aufnehmen kann wie diese Idee des Begegnungsorts von Roland Kachler, zum Beispiel, also dass man bestimmte Skulpturen nach einem bestimmten Thema baut. Viele Varianten.
Ohler Ja, ganz, ganz klar, und es gibt ja noch viel mehr. Ich war selbst immer wieder überrascht, als ich das gelesen habe, und habe gedacht, was es da alles an Möglichkeiten gibt. Sie haben jetzt viel von der Arbeit mit Kindern gesprochen. Man kann das auch mit Erwachsenen machen. Was gibt es da für Unterschiede? Und wo ist es da besonders geeignet? Oder braucht es da manchmal auch Überzeugungsarbeit, zu sagen: Komm, wir machen jetzt Sandspiel?
Brächter Ja, es ist sicher so, dass Kinder schneller auf den Sandkasten fliegen. Das hat einen ganz hohen Aufforderungscharakter für Kinder. Erwachsene finden es erst mal tendenziell merkwürdig. Da kommt es dann, denke ich, auf die eigene Überzeugung an, die man hat. Und ich habe aber die Erfahrung gemacht, auch in der Arbeit in einer Frauenberatungsstelle, wo ich das auch anwenden konnte, dass es ist wirklich sehr hilfreich sein kann, auch für Erwachsene, um sich einfach mehr zu fokussieren und nicht von Thema zu Thema zu springen, und um was zu haben, worauf man schauen kann und noch mal neue Perspektiven entdecken zu können. Bei Jugendlichen ist es auch teils schwierig, da wirkt es auch oft zu kindlich. Es hängt aber auch von den Figuren ab, die man anbietet. Aber Jugendliche profitieren auch sehr davon, dass sie zum Beispiel ein inneres Team darstellen können. Also zwischen welchen Polen schwanke ich? Das ist denn so etwas, wo Jugendliche einen Zugang haben und wo man mit ihnen dann auch gut im Sand arbeiten kann?
Ohler Da will ich gleich nochmal – Sie haben es jetzt angesprochen: inneres Team – kurz darauf eingehen. Aber zuvor: Sie hatten vorhin von Settings gesprochen. Was gibt es noch für unterschiedliche Settings? Haben Sie schon damit im Paar-Setting gearbeitet?
Brächter Es gibt auch ein Paar-Sandspiel, von Linde von Keyserlingk entwickelt. Das finde ich eine tolle Methode. Ich selbst habe damit jetzt weniger Erfahrung, weil ich meine Arbeit die letzten 20 Jahre überwiegend mit Kindern in der kinder und jugendpsychiatrischen Praxis gemacht habe. Aber diese Idee mit Paaren erst mal aufzubauen, gleichzeitig in zwei Sandkästen Bilder der Herkunftsfamilie – aus welchem Hintergrund komme ich? –, dann Bilder der gewünschten Zukunft, und dann die Idee: Kann man aus dieser gewünschten Zukunft auch ein gemeinsames Sandbild entstehen lassen? Also das ist so die Idee im Paarsandspiel. Ich habe gerne Sandspiel in der Elternarbeit genutzt. Wenn Eltern unterschiedliche Erziehungsvorstellungen hatten, dann wirklich in zwei Kästen aufbauen zu lassen: Wie sehen eigentlich die beiden Eltern die Familie, das Kind in der Familie und sich selbst? Und dann hat man eine andere Ebene. Man ist weg von der Ebene der Strategien und eher auf der Ebene der Emotionen und der Hintergründe, die beide mitbringen.
Ohler Spannend. Sie haben vorhin schon verschiedenste Verwandtschaften oder Bezüge zu hypnosystemischen, auch hypnotherapeutischen Trancegeschichten erwähnt. Ich habe gehört, es gibt offensichtlich auch so eine Verbindung zu Ansätzen wie Ego-State-Therapie oder anderen Teile-Konzepten. Was nützen die im Sandspiel, und was nützt das Sandspiel, wenn man ego-state-therapeutisch arbeitet?
Brächter Das finde ich eine sehr spannende Frage. In der Sandspieltheorie gibt es diese beiden Betrachtungsweisen: Einmal die objekstufige Betrachtung, bei der das, was im Sand dargestellt ist, eher Themen der äußeren Welt sind. Also: Welche wichtigen Themen sind dort? Und es gibt die Ebene der subjektstufigen Betrachtung. Und da ist man im Prinzip auf der Ebene des inneren Teams. Da werden alle Figuren, die verwendet werden, die dort auftauchen, angeschaut unter dieser Betrachtungsweise: Was könnten die auch bedeuten, wenn ich darauf schaue aus dieser Idee, es könnten Ich-Zustände sein. Ich finde es wirklich sehr spannend. Ich habe damals vor einer Teile-Therapie-Tagung mir Gedanken gemacht: Was findet sich eigentlich von den ganzen Interventionen der Ego-State-Therapie auch im Sandspiel wieder? Nun, ich habe gemerkt, ganz vieles von dem, was dort gemacht wird, also überhaupt Zugang schaffen zwischen verschiedenen Ich-Zuständen oder Hilfsfiguren finden für verletzte Ich-Zustände, all solche Dinge geschehen automatisch auch in diesen Geschichten, die die Kinder dann spielen, aus diesen Sandbildern heraus. Und einen ganz wesentlichen Punkt finde ich auch den Umgang mit destruktiven Anteilen, destruktiv agierenden Ich-Zuständen. Das hat man in der Kinder-Therapie häufig in Form dieser nie endenden Kämpfe. Da finde ich dann auch wieder den Einbezug von zwei weiteren Methoden ganz hilfreich. Also einmal zu schauen, aus Ego-State-Sicht, womit habe ich es da eigentlich zu tun, wenn ein Kind sich so destruktiv verhält mit diesen Figuren im Sand? Welches Bedürfnis kann eigentlich dahinterstehen? Und dann auch zu schauen: Wie kriege ich das gut gehändelt? Und da hilft mir sehr die Kinderorientierte Familientherapie. Ich habe ja auch mit Bernd Reiners zusammen ein Buch herausgegeben, wo wir diese Ansätze gegenübergestellt haben. Da spielt man ja dialogisch mit dem Kind. Und das kann oft wirklich viel helfen, wenn ich dann mit eigenen Figuren in das Spiel gehe und dann erstmal modellhaft meine eigenen Figuren schütze, sodass Kinder auch mal eine Idee entwickeln können: Es geht auch so. Es geht nicht nur auf dem freien Kampffeld, sondern man kann auch erst mal an Grenzen arbeiten und sich absichern. Auch die Idee von Alfons Aichinger aus dem Kinder-Psychodrama finde ich extrem wichtig und hilfreich, wie man im Spiel Kindern helfen kann, aus der Täterrolle heraus in die Retterrolle für einen traumatisierten Zustand zu kommen. Gerade Jungen fällt es oft sehr schwer, diesen hilflosen traumatisierten Anteil zu spielen. Aber wenn sie es schaffen können, statt immer nur aus der Täterrolle heraus zu agieren, in die Opferrolle zu gehen und sich dann selbst dem traumatisierten Anteil zuzuwenden, kann das einfach eine sehr sehr hilfreiche Ausrichtung sein.
Ohler Vielen Dank für die ausführlichen Einblicke, welche andere Kompetenzen wichtig sein können, die der Sandspieltherapie helfen oft auf dem Weg und umgekehrt. Angenommen, jemand sagt jetzt: Okay, ich will damit anfangen, ich will das jetzt mal machen. Was sollten die Voraussetzungen sein? Ich meine das jetzt nicht so harsch, wie es vielleicht klingt, aber was ist vielleicht gescheit mitzubringen? Und damit gleich verknüpft die Frage: Kann man das lernen in Ausbildungen? Und wenn ja, wo?
Brächter Ich denke, alle, die sich für Sandspiel interessieren, kommen ja aus therapeutischen oder pädagogischen Grundberufen. Und es ist dann eine Weiterbildung, die darauf noch mal aufbaut. Diese klassischen Weiterbildungen sind sehr sehr lang. Da geht es dann halt auch sehr stark um Symboldeutung. Im systemischen Sandspiel, so wie ich das unterrichte, geht es eher darum, einen eigenen Eindruck davon zu bekommen, es selber auszuprobieren und einfach dann das Medium des Sandspiels mit dem zu verbinden, was da ist an systemischen Fragetechniken, an hypnotherapeutischen Vorgehensweisen, und so weiter, das lässt sich sehr gut verknüpfen. Mir ist immer wichtig, dass es auch praktisch geübt werden kann in meinen Seminaren. Ich biete das ja bei verschiedenen systemischen und hypnotherapeutischen Instituten im deutschsprachigen Raum in Form von Einführungs- und Aufbauseminaren. In Köln startet demnächst auch ein Ausbildungsgang, wo aus verschiedenen Richtungen mal Sandspiel-Ideen reinkommen. Das ist dann eine etwas längere Ausbildung. Und darauf aufbauend, denke ich, ist dann Supervision wichtig und Selbsterfahrung im Sandspiel.
Ohler Ich glaube, ein ganz kleines Detail herausgehört zu haben, dass man eben sagt: Okay, man verknüpft es mit anderen Kompetenzen, die man schon hat, oder man entwickelt die mit, aber man lernt jetzt nicht sozusagen ein rigides Deutungsmuster. Das haben Sie am Anfang ja gesagt, nicht in diese Raster verfallen, sondern eher dem widerstehen, zu sagen: Wenn das da ist, ist ganz eindeutig das und das ....
Brächter Ja, genau. Es gibt Ideen, Grundideen. Zum Beispiel diese Entwicklungsrichtung von links nach rechts, wo rechts meist die Zukunft ist, was ja in vielen kunsttherapeutischen Modellen so ist, muss aber auch nicht immer zutreffen. Aber solche Dinge. Also um sich einfach ein bisschen orientieren zu können, ist das manchmal ganz sinnvoll. Aber im Wesentlichen geht es einfach darum, in der Praxis auch das Timing herauszufinden, nicht zu schnell zu sein, nicht zu viel zu fragen. Mir ist auch immer wichtig, mich auf die Ebene des Kindes einzuschwingen, oder des Menschen, mit dem ich gerade arbeite. Also auch ruhig mal so neugierig offen, wie es im Systemischen ja auch ist, Fragen stellen zu können. Mit der Idee: Wenn ich zu viel frage, werde ich auch schon zurückgewiesen. Mir sagen Kinder auch manchmal: Du redest zu viel. Ich finde, diese Ebene, also dass man nicht als Therapeutin so weit oben drüber steht, sondern wirklich Ideen rein gibt, Fragen stellt und eine Idee bekommt: Man kann ja experimentieren. Es ist alles offen und man kann gucken, in welche Richtung geht es weiter. So stelle ich mir das vor.
Ohler Nicht gängeln, sozusagen. – Ich will nur mal kurz auf die aktuellen Krisenzeiten zu sprechen kommen. Ich meine, es ist ja nicht so, dass es eine Zeit gibt, wo es überhaupt keine Krisen gibt. Aber die allgemeine Wahrnehmung ist ja so, dass wir doch in sehr besonderen Zeiten leben, schon länger, nach wie vor, und weiter mit neuen Beiträgen dazu. Das ist eine besondere Herausforderung. Was ist Ihnen in Ihrer Praxis, wenn Sie da einen kurzen Blick drauf werfen, ganz besonders aufgefallen, in diesen zwei bis zweieinhalb Jahren?
Brächter Zuerst mal: Die Corona Zeit hat natürlich einen großen Einbruch gebracht, auch in vielen Einrichtungen. Da durfte auch gar nicht mehr mit Sandspiel gearbeitet werden, aus hygienischen Gründen. Da war die direkte Arbeit mit den Kindern teilweise eingeschränkt. Gott sei Dank geht das jetzt langsam wieder bergauf. Jetzt, denke ich, dieser schreckliche Krieg wird sicher auch noch mal Thema in ganz vielen Therapien sein. Es gibt im Sandspiel auch Konzepte für Gruppenarbeit. Es gibt eine Kollegin, die in Kriegs- und Krisengebieten, auch nach Naturkatastrophen, mit Kindern gearbeitet hat: Frau Pattis Zoja in der expressiven Sandarbeit. Da können dann auch Kinder, teilweise mit Laienhelfern an der Seite, ihr Erleben darstellen. Ich kann mir vorstellen, dass solche Gruppenkonzepte auch wichtig sind, wenn man sich anschaut, wie viele Flüchtlingskinder jetzt auch hierherkommen und wie das alles weitergeht.
Ohler Ich hätte noch nach einem Tipp gefragt, aber das war er ja schon, dass es tatsächlich nicht nur dieses Einzelsetting gibt oder dieses an familientherapeutischen Modellen angelehnte, sondern auch Gruppen damit arbeiten können. – Ich muss meinem Job nachkommen, z.B. nach der Zeit gucken, aber auch an Sie die klassische Carl-Auer-Sounds-of-Science-Abschlussfrage. Also man hat eine Vorstellung, man geht ins Gespräch, wahrscheinlich wird das thematisiert und das thematisiert, man hat vielleicht selber ein Anliegen, oder es kommt einem während des Gesprächs eine Idee, die legt man links ab und jetzt liegt sie da noch. Gibt es irgendetwas, wo Sie sagen würden, das wäre ich eigentlich gern gefragt worden, oder das ist mir noch eingefallen, oder ein Statement, dann wäre jetzt die Möglichkeit dafür zum Abschluss.
Brächter Was mir ganz wichtig ist bei der Sandspieltherapie ist die Möglichkeit, dass Kinder mehr in die Auftragsklärung reinkommen. Das ist ein ganz extrem wichtiger Punkt, weil Auftragsklärung in der Kinder-Therapie ja immer eigentlich von Erwachsenen dominiert ist, von den Eltern, die darunter leiden, dass das Kind irgendwelche Auffälligkeiten hat. Und die Therapie ist dann darauf ausgerichtet, Symptome zu beseitigen, sage ich mal etwas platt. Ich finde es ganz wichtig, dass Kinder selber auch die Möglichkeit haben, ihre Anliegen darzustellen. Und die Kinder können das eher im Spiel als mit Worten. Und ich finde es ganz ganz hilfreich, wenn man Kindern wirklich die Möglichkeit gibt, zu Beginn der Therapie zumindest in bestimmtem Stundenumfang einfach mal frei zu spielen und zu schauen, was für Themen zeigen sich dort eigentlich? Und was ist eigentlich das Anliegen des Kindes? Oft deckt sich das nicht mit dem, was von den Eltern formuliert wird. Diese Ausrichtung an diesen ganzen manualisierten Konzepten in der letzten Zeit in der Therapie läuft dem auch sehr zuwider, was ich so therapeutisch vertrete. Ich finde, wenn eine Therapie darauf ausgerichtet ist, Symptome zu beseitigen, dann gibt es ja die Schwierigkeit, dass Symptome oft eine Möglichkeit sind, überhaupt mitzuteilen, dass irgendwas schief läuft, dass irgendein Entwicklungsbedürfnis nicht erfüllt ist oder ein Bindungsbedürfnis nicht erfüllt ist. Und wenn man nur daran arbeiten würde, jetzt da wieder einen "Normalzustand" in Anführungszeichen herzustellen, dann frage ich mich wirklich, was wäre dann mit den Anliegen der Kinder, an die ich jetzt so denke, die mir im Sandspiel begegnet sind, denen es zum Beispiel darum ging: Es gibt Gewalt in der Familie, es gibt Sorge um süchtig trinkende Elternteile oder so. Was sich aber eher in diesem spielerischen Rahmen zeigt, dann aber natürlich wieder mit an die Familie rangetragen werden muss.
Ohler Kinder in die Auftragsklärung ...
Brächter ... genau, genau.
Ohler Jetzt bin ich wieder froh über diese Frage, weil das ein ganz wichtiger Punkt ist, den Sie jetzt noch gebracht haben. Vielen Dank. Ich sage Danke für die Zeit, auch im Namen der Hörerinnen und Hörer und des Verlags. Danke für das Buch natürlich. Und wir werden uns bestimmt bei Tagungen und sonstwo auch wieder begegnen.
Brächter Auch Ihnen vielen Dank, und ich würde mich freuen, wenn es dazu beitragen könnte, dass sich diese Methode verbreitet, weil ich sie einfach toll finde.