Die Soziale Arbeit als Musik der Lösung

Die Musik ist eine herrliche Analogie für die Soziale Arbeit. Ihr ist ein geistiges Prinzip eigen, das eine Gegenständlichkeit spürbar machen kann, die ansonsten in intellektueller „Verkopfung“ oder „Vertheoretisierung“ unterzugehen droht: die Beziehung von „Problem“ und „Lösung“.
Anhand der Harmonie und der Resonanz soll dies Thema dieses Beitrages sein.


Im letzten Beitrag zur Blues-Haltung habe ich anklingen lassen, dass Soziale Arbeit sich in der Problemresonanz befände. Dass aller Anfang von Sozialer Arbeit ein Problem sei.
Nun mag dies wenig verwundern, denn der Ursprung der Sozialen Arbeit, sehr knapp formuliert, liegt darin, dass wagemutige und bedeutsame Pionierinnen das soziale Elend von Menschen erkannten und wohlwollend tätig wurden.
Entsprechend übernahmen diese Pionierinnen, etwa Mary Richmond, das soziokulturelle Gedankengut ihrer Zeit und verwendeten entsprechend die Werkzeuge dieser Zeit, namentlich als Moderne in die Geschichte eingegangen. Was aber taten sie?
Die Moderne ist durch vieles geprägt, vor allem durch das materielle und mechanistische Modell, das sich zum einen sehr gut anbietet, um die Harmonie des materiellen sozialen Elend zu erkennen. Zum andren richtet es sich damit aber auch eben an diesem Elend aus, resoniert daher mit dem Problem.
Die Soziale Arbeit übernimmt – vermutlich eher implizit – das medizinische Modell von Anamnese, Diagnose und Intervention. Das scheint rational. Das scheint naturwissenschaftlich. Das scheint modern.
Es ist bestimmt viel Gutes damit einhergegangen. Und es ist, so wird dieser Beitrag zeigen, mit harmonischen und resonanten Misstönen verbunden.


Ich bringe diesen Frauen viel Bewunderung entgegen. Und mir geht es auch nicht um diese Frauen oder um deren Leistung oder um die Moderne oder sonst etwas. Ich möchte lediglich anhand der spürbaren Gegenständlichkeit der Harmonie und der Resonanz aufzeigen, was damit einhergehen könnte.


Dieses Vorgehen ist, harmonisch betrachtet, problemorientiert: Ich erkenne ein Problem. Ich löse das Problem. Das ist ein alltagstypisches und alltagstaugliches Konzept. Und weil das Wort „lösen“ darin vorkommt, so denkt man, dass sei lösungsorientiert.
Aber das ist ein Irrtum.
Immer dann, wenn von einem Problem ausgegangen wird, dann befindet man sich in der Problemresonanz; dann handelt man problemorientiert. Und das birgt das Risiko, mit der Problemschwere zu resonieren.
Anhand der Musik kann dies herausgestrichen werden.


Stellen wir uns vor, ein Problem könne harmonieren als auch resonieren. Sagen wir einmal, es erklingt als Moll-Akkord. Problem als Moll. Solange der Mollakkord gespielt wird, erklingt auch Moll, egal, wie auch immer das getan wird. Beziehe ich mich auf Moll, so spiele ich die Molltonleiter, egal, welches Instrument ich dafür verwende. Es ist und bleibt Moll.
Die Harmonie ist eindeutig. Nicht mehrdeutig. Eindeutig Moll. Die Harmonie Moll ergibt eine entsprechende Resonanz, hör- und spürbar. Möchte ich dagegen Dur spielen, so spiele ich Dur. Dur und Moll sind miteinander verwandt, logischerweise. Dennoch ist Dur gleich Dur und eben nicht Moll. Und Moll ist Moll und nicht Dur. Es handelt sich um eine andre Harmonie: Spiele ich Moll, so erfolgt die Moll-Harmonie. Spiele ich Dur, so erfolgt die Dur-Harmonie. Jede Harmonie resoniert anders mit dem Hörer.


Mit dieser Analogie wird möglicherweise das Zitat von Albert Einstein hör- und spürbar: Er meinte, frei zitiert, dass Probleme nicht auf der Ebene des Denkens gelöst werden könnten, auf der diese entstanden – also ursprünglich gedacht worden – seien. Ebenso wenig kann ich einen Dur-Akkord in Moll spielen und umgekehrt. Es ist tatsächlich eine andre Form von Harmonie und damit auch von Resonanz.


Musik und Menschen resonieren. Analog können wir beobachten, dass ebenso problemorientierte oder lösungsorientierte Methoden und Menschen harmonieren bzw. resonieren. Es braucht keine intellektuelle Diskussion. Es braucht nur ein Auge – oder in dem Fall: ein Ohr – für die Harmonie und die damit einhergehende Resonanz.


Möchte ich vom Problem zur Lösung, so wechsle ich die Tonleiter und die Harmonie. Und damit wechsle ich die Resonanz. Ich wechsle von Moll in Dur. Es ist vollkommen logisch, dass dies nur so – und nicht anders – funktionieren kann. Das ergibt die gewünschte Harmonie.
Für diesen Zugang braucht die Wahrnehmung und Beobachtung: das Erspüren von Harmonie und Resonanz.


Kommen wir auf die soziokulturelle Einbettung der Pionierinnen der Sozialen Arbeit und dem stiftenden Gedanken der Sozialen Arbeit zurück.


Wenn wir die grundlegende harmonische Struktur der Gesellschaft betrachten, insbesondere ab dem 16. Jahrhundert, vorangetrieben durch die Aufklärung und später erstarkt durch die Industrialisierung und Mechanisierung der Gesellschaft, so bemerken wir, dass wir unsre Gesellschaft in Moll geschrieben haben. Unsre Gesellschaft beginnt immer mit der Anamnese eines Problems, versucht dieses zu analysieren oder zu diagnostizieren und interveniert aus der gegebenen Erkenntnis.
Ein Beispiel: Menschen leben in Elend. Es wird anamnestisch erfasst. Das Elend wird diagnostiziert, um Interventionen abzuleiten.
Ein weiteres Beispiel: Ein Mensch wird nicht als gesund in der Anamnese erfasst, sondern als krank. Es wird nicht die Gesundheit betrachtet, sondern die Krankheit. Diese wird diagnostiziert. Das Kranke wird behandelt, eben nicht das Gesunde.


So denkt nicht nur Soziale Arbeit oder Medizin , so denkt unsre Gesellschaft. Deshalb meint Karl Popper: „Alles Leben ist Problemlösen.“ Wir sind mit Problemen beschäftigt und richten unser Leben an Problemen aus, die wir lösen. Wir spielen Moll. Tagein. Tagaus.
Es fällt uns kinderleicht, ein Problem zu erkennen und zu konstatieren. Denn wir lernen von Kindheit an, Probleme zu lösen. Wir spielen Moll, ein Leben lang. Anhand der Musik können wir nachvollziehen, was gemeint ist. Es ist die Frage, womit wir resonieren. Mit dem Problem oder mit der Lösung. Mit Moll oder mit Dur.


Schauen Sie einmal mit klaren Blick in das Feld der Sozialen Arbeit. Hören Sie Sozialarbeitern zu. Lesen Sie Fachbücher. Und spüren Sie die Gegenständlichkeit des Charakters Sozialer Arbeit.
Bemerken Sie, in welcher Harmonie die Theorie verfasst ist und womit im Allgemeinen resoniert wird?
Wir müssen nicht intellektualisieren. Wir spüren die Harmonie und deren Resonanz. Und daraus leiten wir alles Weitere ab. Wir können klar schauen und folgerichtig denken, denn wir kennen die Schwingungen von Moll und von Dur. Denn wir wissen, wie Moll und Dur uns selbst berühren.


Mittlerweile finden sich aber viele Impulse in unsrer Gesellschaft, die von Dur-Harmonien ausgehen. Beispiele dafür sind u.a. die Lösungsorientierte Beratung und Therapie nach Insoo Kim Berg und Steve de Shazer, die Potentialentfaltung nach Gerald Hüther, das hypnosystemische Integrationskonzept nach Gunther Schmidt, die Positive Psychologie nach Martin Seligman und auch das Systemische Case Management nach Heiko Kleve.
All diese Konzepte bzw. Methoden bieten Handwerkszeug an, Menschen in Moll-Harmonien von Subjekt zu Subjekt, von Herz zu Herz zu begegnen, authentisch in Kontakt zu kommen und gemeinsam Töne in Dur zu finden.
Das methodische Vorgehen mag charakterlich, technisch oder entwicklungsgeschichtlich unterschiedlich sein. Gemein ist, dass alle Konzepte über Moll und Dur Bescheid wissen und ganzheitlich damit umgehen. Und das ist gut so.


Kommen wir nochmals auf die Analogie der Musik zurück, um dies zu verdeutlichen: Ein Musiker kann sowohl Moll- als auch Durtonleitern spielen. Darin ist eine Wahlmöglichkeit zu finden, die zu mehr Handlungsfreiheit führt. In der Weite der Lösungsmusik können gemeinsam mit Menschen (soziale) Arrangements gebildet werden.
Diese Wahlmöglichkeit als auch Handlungsfreiheit kann ein leitendes Prinzip für die Soziale Arbeit werden. Es streicht heraus, dass Menschen eine ihnen innewohnende Gabe – nämlich ihr Gespür für Harmonie und Resonanz – im Kontakt zu andren Menschen nutzbringend und wohlwollend in die Welt bringen können.


Das kann dazu verhelfen, dass Lösungen harmonisch resonieren – harmonisch für den Mensch, der diese Lösung in, durch und mit sich in Resonanz bringt.
Diese Form der Sozialen Arbeit ist weder abstrakt noch „vertheoretisiert“. Sie richtet sich an der Individualität des Menschen aus, an der situativen Musik.


Jeder Mensch hat nicht nur die Fähigkeit zur Lösung. Jeder Mensch ist an und für sich eine Lösung. Wenn Soziale Arbeit diese Lösung sehen, hören und spüren kann, so wechselt sie die Tonart. Sie wird dann zur Musik der Lösung.
So kann sie lösungsorientiert soziale Gegenständlichkeit in, mit und durch Menschen orchestrieren. Sie weiß: Jeder Akkord für sich, jede Harmonie für sich ist kostbar. Und gemeinsam kann es noch viel herrlicher erklingen.


Der kommende Beitrag bleibt nochmals musikalisch und trägt den Titel: „Der Ton macht die Musik“ – Sie werden bemerken: auch in der Sozialen Arbeit.