Organisationskultur

engl. organizational culture, franz. culture organisationnelle. Kaum ein Begriff wird im Management so leichtfertig und unpräzise gebraucht wie der der Organisationskultur. Unter Organisationskultur (Kultur) werden sowohl »grundlegende Annahmen«, »Taken-for-granted-Verhalten« als auch nach »außen dargestellte Werte« und »Artefakte« wie Architektur, Möbel oder Kleidung verstanden (Schein 1985, S. 12). Organisationskultur wird als »Gesamtheit aller Normen und Werte« begriffen, die den »Geist und die Persönlichkeit« einer Organisation ausmachen (Doppler u. Lauterburg 2002, S. 451). Zur Organisationskultur werden so unterschiedliche Phänomene wie kognitive Fähigkeiten (Schnyder 1992, S. 63), Denkhaltungen (Kobi u. Wüthrich 1986, S. 13), Organisationsklima (Schein 1985, S. 21) oder erworbene Wissens- und Erkenntnisprogramme (Klimecki et al. 1994, S. 80) gezählt. Organisationskultur wird als eine »Sammlung aus Traditionen, Werten, Strategien, Glaubenssätzen und Verhaltenssätzen bezeichnet« (Marshall u. Mclean 1985, S. 2 ff.) oder – komplizierter ausgedrückt – als »selbstreferentielle Sinnzusammenhänge« in einer Organisation (Bardmann u. Franzpötter 1990, S. 434).


Der Begriff der Organisationskultur dient vielfach als »terminologischer Staubsauger«, mit dem alles aufgenommen werden kann, was in irgendeiner Form mit Organisationen zu tun hat. Werte, Normen, Geschäftsmodelle, Regeln, Symbole, Denkweisen, Glaubenssätze, Mythen, Dogmen, Bedeutungen – alles wird mit dem Begriff der Organisationskultur erfasst und miteinander vermengt. Dieser droht dabei das gleiche Schicksal zu erleiden wie die im Managementdiskurs ebenfalls expansiv verwendeten Begriffe der Führung oder der Strategie – begriffliche Beliebigkeit. Das hat zur Folge, dass mit einem weit bestimmten Begriff von Organisationskultur häufig die gleichen empirischen Phänomene und normativen Empfehlungen erfasst werden wie mit den Begriffen der Führung oder der Strategie. So wird dann die Idee der Geisteshaltung der Organisationsmitglieder unter dem Begriff der Organisationskultur genauso behandelt wie unter dem Begriff der Strategie. Oder Verhaltensweisen oder Haltungen werden sowohl unter dem Begriff der Führung als auch unter einem weiten Begriff der Organisationskultur diskutiert.


Dabei ist es aus einer systemtheoretischen Perspektive gar nicht so schwer, den Begriff präzise zu bestimmen: Unter »Organisationskultur« – oder synonym unter informalen Strukturen – versteht man all jene Verhaltenserwartungen in Organisationen, die nicht über Entscheidungen festgelegt wurden, sondern die sich langsam eingeschlichen haben. Die Systemtheorie spricht hier von den nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen in Organisationen (Rodríguez 1991, S. 140 f.). Der Praktiker und die Praktikerin mag angesichts dieser Definition erst einmal irritiert sein. Entscheidungsprämissen – was soll das sein? Und was sollen dann nicht entschiedene Entscheidungsprämissen sein?


Für die Bestimmung von Organisationskultur ist wichtig, dass sich Erwartungen in Organisationen in zwei unterschiedlichen Formen ausbilden können – entweder indem über diese Erwartungen durch ein Management, einen Gesetzgeber oder ein Familienoberhaupt entschieden wird oder indem sich die Erwartungen, ohne dass sie jemals klar entschieden werden, allein durch Imitationen und Wiederholungen einschleichen (siehe Young 1989, S. 201). Man kann sich den Unterschied an einem Bild deutlich machen: Bei der Anlage eines Parks trifft die Stadtverwaltung Entscheidungen, wo Wege angelegt werden. Über den Verlauf dieser Wege werden Erwartungen aufgebaut, wo die Parkbesucher und -besucherinnen zu gehen haben. Daneben bilden sich in Parks jedoch sehr schnell auch Trampelpfade aus. Über diese Trampelpfade wurde nie entschieden, sondern sie entstehen faktisch durch die wiederholte Nutzung durch Spaziergänger und Spaziergängerinnen. Sind sie erst einmal kräftig ausgetreten, dann kann die Erwartung, diese Trampelpfade zu nutzen, ähnlich ausgeprägt sein wie die Erwartung, dass die durch die Stadtverwaltung angelegten offiziellen Wege zu nutzen sind.


Es gibt verschiedene Gründe, weswegen sich organisationskulturelle Erwartungen ausbilden: So lassen sich nicht alle Erwartungen in Organisationen zu Mitgliedschaftsbedingungen erheben. Gerade wenn es um Einstellungen, Haltungen und Denkstile geht, ist die Formulierung als Mitgliedschaftsbedingung schwierig, wenn nicht unmöglich. Man muss sich nur die verzweifelten Versuche von Beratenden und Personalentwicklern und -entwicklerinnen ansehen, ihren Klienten und Klientinnen Kreativität, Spontanität oder Authentizität beizubringen. Hier spielt die subtile Beeinflussung durch informale Erwartungen – die Organisationskultur – eine zentrale Rolle. In der Organisationswissenschaft ist dann von unentscheidbaren Entscheidungsprämissen die Rede (Kühl 2020, S. 104 f.). Es gibt aber auch Erwartungen, die zwar prinzipiell formalisierbar sind und deren Einhaltung kontrollierbar wäre, auf deren Formalisierung die Organisation aber – bewusst oder unbewusst – verzichtet. In der Organisationswissenschaft werden sie als prinzipiell entscheidbare, aber nicht entschiedene Entscheidungsprämissen bezeichnet (Kühl 2020, S. 105 f.). Deren Herausbildung hängt damit zusammen, dass Organisationen mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert sind, die nicht durch Entscheidungen auf der Formalebene gelöst werden können. In Organisationen kann es – so eine frühe Beobachtung von Niklas Luhmann – immer nur eine »konsistent geplante, legitime formale Erwartungsordnung« geben (Luhmann 1964, S. 155). Da Organisationen auf widersprüchliche Anforderungen reagieren müssen, aber gleichzeitig darauf achten müssen, dass die Mitglieder mit einer konsistenten und deswegen weitgehend widerspruchsfreien formalen Struktur konfrontiert werden, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als Informalität, ja teilweise sogar Illegalität zu tolerieren oder sogar zu fördern (Luhmann 1964, S. 86).


Das grundlegende Problem einer Arbeit an der Organisationskultur besteht darin, dass es keinerlei Gewissheit gibt, wie die Kulturprogramme von den Mitarbeitenden aufgenommen werden. Organisationskulturen bilden sich als informale Handlungsnormen durch Wiederholung und Imitation aus. Und die so eingespielten Handlungsnormen lassen sich nicht – das ist die Eigenart nicht entschiedener Entscheidungsprämissen – durch die Verkündigung neuer organisationskultureller Werte verändern. Aber welche Möglichkeiten hat das Management dann überhaupt, die Organisationskultur zu beeinflussen?


Die Antwort mag im ersten Moment paradox klingen. Der einzige Hebel des Managements, die Organisationskultur zu verändern, sind Veränderungen der Formalstruktur. Nicht so, wie es sich ein steuerungsbegeistertes Management vielleicht wünschen mag – nämlich, dass mit der Verkündigung der formalen Struktur auch gleichzeitig die passenden Veränderungen der Organisationskultur mitangeregt werden könnten. Sondern vielmehr dadurch, dass jede Veränderung in den offiziellen Berichtswegen, jede Verkündigung eines neuen offiziellen Ziels, jede Einstellung, Versetzung oder Entlassung Auswirkungen darauf hat, wie die Arbeit informal in den Bereichen, Abteilungen oder Teams koordiniert wird.


Deswegen muss bei der Arbeit an der Organisationskultur grundlegend anders vorgegangen werden, als es bei den meisten Projekten in Organisationen bisher üblich ist. Weil sich eine Organisationskultur als Reaktion auf formale Verhältnisse entwickelt, muss in der Analysephase zunächst das Verhältnis von Formalität und Informalität in der Organisation genau untersucht werden. Was sind die vorgeschriebenen Kommunikationswege, die offiziellen Programme und die formalisierten Erwartungen bezüglich des Personals? Wie wirken sie sich auf die alltäglichen Arbeitsprozesse aus? Gibt es formale Regelungslücken, die durch informale Erwartungen gefüllt werden? Wird aus sinnvollen Gründen regelmäßig von der Formalstruktur der Organisation abgewichen?


Verwendete Literatur


Bardmann, Theodor M. u. Reiner Franzpötter (1990): Unternehmenskultur. Ein postmodernes Organisationskonzept. Soziale Welt 41: 424–440.


Doppler, Klaus u. Christoph Lauterburg (2002): Change Management. Den Unternehmenswandel gestalten. Frankfurt a. M./New York (Campus), 10. Aufl.


Klimecki, Rüdiger, Gilbert Probst u. Peter Eberl (1994): Entwicklungsorientiertes Management. Stuttgart (Schäffer-Poeschel).


Kobi, Jean-Marcel u. Hans A. Wüthrich (1986): Unternehmenskultur verstehen, erfassen und gestalten. Landsberg (Moderne Industrie).


Kühl, Stefan (2020): Organisationen. Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden (Springer VS).


Luhmann, Niklas (1964): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin (Duncker & Humblot).


Marshall, Judie a. Adrian Mclean (1985): Exploring organization culture as a route to organizational change. In: V. Hammond (Hrsg.): Current research in management. London (Francis Pinter), S. 2–20.


Rodríguez, Darío (1991): Gestion organizacional. Elementos para su estudio. Santiago de Chile (Pontificia Universidad Católica de Chile).


Schein, Edgar H. (1985): Organizational culture and leadership. London (Jossey-Bass).


Schnyder, A. B. (1992): Die Entwicklung zur Innovationskultur. Organisationsentwicklung (1): 62–69.


Young, Ed (1989): On the naming of the rose. Interests and multiple meanings as elements of organizational culture. Organization Studies 10 (2): 187–206.


Weiterführende Literatur


Kühl, Stefan (2018): Organisationskulturen beeinflussen. Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden (Springer VS).


Rodríguez, Darío (2001): Cultura organizacional. Santiago de Chile (Pontificia Universidad Católica de Chile).