Der Ton macht die Musik

Dieser Beitrag soll eine Idee weiterführen, die zuletzt unter der Nummer 15 erstmals formuliert wurde. Damals schrieb ich über die „Vertheoretisierung“ der Sozialen Arbeit, ohne näher zu erklären, welches
Phänomen ich mit diesem Begriff meine.
Nun ist dafür Zeit.


Das heutige Thema betrifft nicht nur die Soziale Arbeit, sondern auch angrenzende Fachbereiche, etwa das Coaching, die Beratung und andere. Es beruht auf vielen Begegnungen und Erfahrungen, die ich in Kontexten von Lehrgängen an Universitäten, Fachhochschulen und Privatinstituten gemacht habe.
Zum einen ist der Kern aller dieser Begegnungen, dass mir allerorts mitgeteilt worden sei, dass die Akademisierung von Sozialer Arbeit (oder von Coaching oder von Beratung) zu wenig fortgeschritten sei. Dass es mehr universitäre oder fachhochschulende Wissenschaft brauche, damit die Professionalität von Beratung, Coaching oder Sozialer Arbeit gehoben werde.
Auch mich ereilt dies, zum anderen.
Ich selbst bin als Vortragender tätig und werde selten, meist gar nicht danach gefragt, ob ich eine zu vermittelnde Methode tatsächlich praktisch beherrsche. Hingegen werde ich in der Regel danach gefragt, ob ich wissenschaftlich diese Methode erforscht habe oder auf andre Art und Weise meine wissenschaftliche Kompetenz hervorstreichen könne.


Wenn Sie jetzt meinen, was denn nun der Herr Kluschatzka-Valera wieder habe…? Warum er sich da über etwas Selbstverständliches echauffiere? Und ob er nicht einer von diesen wissenschaftskritischen Nörglern sei… ? …so kann ich Sie beruhigen.
Darum geht es nicht.


Ich möchte mit dem heutigen Beitrag etwas aufzeigen. Dass es nämlich nicht so eindeutig, linear-kausal formuliert werden könne, dass die Wissenschaft oder wissenschaftliche Betätigung oder Forschung oder Theorien die Performance oder die Profession von Sozialer Arbeit, von Beratung oder Coaching verbessere.
Es ist ein wichtiger Beitrag zur Professionalisierung, der aber falsch verstanden werden kann. Denn der Ton macht die Musik, nicht die Forschung über den Ton in der Musik.


Was meine ich damit?
Lassen Sie uns zunächst das Anwendungsgebiet der Idee kennenlernen.


Wenn Sie Beratung, Coaching oder Soziale Arbeit erlernen, so werden Sie feststellen, dass diese Konzepte bzw. Methoden – je nach Bezeichnung in der scientific community – unterschiedlich genau über sich Auskunft geben können, was Sie eigentlich seien.
Das Coaching tut sich noch sehr einfach mit der Definition, was Coaching sei und wie es vorangetrieben werde.
Die Beratung ist schon ein etwas schwerer zu fassender Begriff und muss oftmals sich mit der Gesprächsführung anlegen oder sich von dieser abgrenzen oder sonst irgendwie herausstreichen, was das Besondere an ihr sei.
Die Soziale Arbeit tut sich meiner Erfahrung nach theoretisch besonders schwer darzustellen, was Sie sei. Manche sehen darin auch die besondere Stärke der Sozialen Arbeit (etwa bei Bardmann).
Insofern wird für Sie als Leser die folgende Analogie leichter für das Coaching umzusetzen sein als für die Beratung oder die Soziale Arbeit. Ich möchte Sie aber dennoch einladen, den Überlegungen zu folgen und die Idee hinter der Ausführung zu erkennen.


Ich selbst spiele Gitarre und kann auf diesem Instrument die Idee wunderbar darstellen.
Sehen Sie, wenn Sie Gitarre lernen, so erlernen Sie das Gitarrenspiel praktisch als auch theoretisch. Praktisch erlernen Sie es, indem Sie Ihre rechte Hand – wenn Sie Rechtshänder sind – als sogenannte Schlaghand verwenden, um den Rhythmus einer Melodie, eines Licks, eines Patterns oder eines Songs zu schlagen oder zu zupfen. Mit der linken Hand greifen Sie auf die Saiten der Gitarre und finden Bünde vor, wo dann Töne und Akkorde gegriffen werden können.
Das ist die praktische Seite der Gitarre.
Die theoretische beherrscht das Wissen von Musiktheorie, zum Beispiel. Sie erlernen etwas über Harmonielehre, über den Aufbau und das Wesen von Musik, insbesondere auf der Gitarre. Das erweitert ihr Gitarrenspiel. Diese Analogie verdeutlicht ganz und gar das Beispiel von Heiko Kleve, das jener im Systemischen Case Management gibt: die Methoden der Sozialen Arbeit verbinden die Theorie und die Praxis miteinander. Ebenso verbindet sich in der Methode des Gitarrenspielens die Praxis von linker und rechter Hand mit der Theorie über Musik und das Instrument.


Jetzt aber begegne ich immer wieder einer Vertheoretisierung der Sozialen Arbeit, einer einseitigen Verschiebung der methodischen Orientierung zugunsten der Wissenschaftlichkeit, also der Theorie, besser gesagt: der Vertheoretisierung.
Auf die Metapher umgemünzt hieße das, dass das Gitarrenspiel dann wissenschaftlich sei, wenn man theoretische Texte über die Gitarre, die Musik usw. gelesen habe. Im besten Fall hat man an einem oder mehreren Forschungsprojekten über die Gitarre und/oder Musik teilgenommen. Eine Veröffentlichung in einem Fachjournal, Anerkennung in der scientific community usw. gehen damit einher.
Da man wissenschaftlich sich mit dem Gitarrenspiel beschäftigt habe, ergebe sich daraus „freilich“ die Kompetenz, das Gitarrenspiel anwenden oder auch weitergeben zu können.


Wenn Sie jetzt meinen, dass bitte schön es doch weder in Beratung noch im Coaching und schon gar nicht in der Sozialen Arbeit es vorkomme, dass Menschen ein Wissen weitergeben, das sie nur theoretisch und nicht praktisch erworben hätten, dann irren Sie womöglich. Sie kennen offensichtlich das „wissenschaftliche“ System dieser Einrichtungen nicht. Denn in der Praxis treffe ich genau diese Lehrpläne und diese Menschen an.
Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?
Ich irre mich auch sehr gerne in diesem Punkt. Ja, es wäre mir geradezu lieber, dass ich im Unrecht bin…


Kehren wir zurück zum Beispiel des „wissenschaftlichen Gitarristen“.
Dann kommt es nämlich, dass dort jemand sitzt, der alles über die Gitarre weiß: Er kennt jede wissenschaftliche Studie zur Gitarre, also zu deren Aufbau und Herstellung. Er kennt die Geschichte der Gitarre und deren Entwicklung. Er kennt die Funktionsweisen der Gitarre und deren Anwendung in den verschiedensten Musikrichtungen.
Er versteht die Musiktheorie, deren Anwendung auf die Gitarre. Im besten Fall hat er über einen oder mehrere Stile auf der Gitarre dissertiert und kann in sehr, sehr abstrakten Begriffen die unglaubliche Weite und Genialität der Musiktheorie anhand dieses Instrumentes darstellen.
Dieser Jemand kann und kennt alles über die Gitarre, eines nur nicht: Er kann keinen einzigen Ton hervorbringen.
Wieso auch? Niemand im System fragt danach, ob er einen Ton spielen kann. Dem hier zu trage kommenden System der „Wissenschaft“ ist nicht wichtig, ob ein Ton gespielt wird. Ihr ist wichtig, ob es „wissenschaftlich“ sei. Das Spiel selbst doch ist kein wissenschaftlicher Prozess. Das Spiel zu erforschen, zu theoretisieren usw., das ist ein wissenschaftlicher Prozess.


Ich übertreibe nun ein wenig, um den Gedanken fortzuführen:
Besonders hartnäckige oder hartgesonnene Anhänger des „wissenschaftlichen“ Gitarrespielens, die beharren darauf, dass nur diese Form die richtige sei, sich mit der Gitarre zu beschäftigen. Dass Töne zu spielen, ohne dies wissenschaftlich fundiert zu haben, eigentlich verboten sei. Nicht nur theoretisch, sondern am besten auch praktisch.
Um sicherzustellen, dass jedermann „wissenschaftlich“ die Gitarre beherrsche, werden Qualitätszertifikate, Tests und sonstige „wissenschaftliche“ Standards geschaffen, welche die „Wissenschaftlichkeit“ des Gitarristen abfragen. Nur solche Gitarristen bekommen dann das – am besten staatliche – Zertifikat als Gitarrist.
Der Ton selbst…? Ja, wie soll das bitte wissenschaftlich (nämlich abstrakt, objektiv etc.) bewiesen werden, dass der eine Ton oder die andre Tonfolge „wissenschaftlicher“ sei… Sie merken schon… Manche unter Ihnen werden analoge oder ähnliche Erscheinungen in der Aus-, Fort und Weiterbildungswelt eventuell entdeckt haben.


Ich selbst finde es höchst interessant, welche musiktheoretischen Schriften es gibt. Und ich schätze Menschen sehr, die das Gitarrenspiel nicht nur autodidaktisch aus einfachen Übungsbüchern zum Zwecke der Unterhaltungsmusik am Lagerfeuer erlernt haben. Wobei auch das Freude machen kann und Menschen beglückt…
Aber was ich schade finde ist, dass das Gitarrenspiel zu verschwinden droht, wenn nicht das System der „Wissenschaft“ begreift, dass es eben genau dieses praktische Spiel brauche, damit es theoretisch oder wissenschaftlich erforscht bzw. erfasst werden könne.


Ich erlebe es in so mancher Aus-, Fort und Weiterbildung selbst: Dass theoretisch äußerst fundierte Menschen mir etwas über das „Gitarrenspiel“ erklären, wobei ich nicht sicher bin, ob diese überhaupt auch nur einen Ton spielen können.
Und das führt – umgemünzt auf Studierende und Lernende von Beratung, Coaching und Sozialer Arbeit – zu einem verheerenden Zustand: das ergibt makellos zertifizierte Menschen, die weder beraten, noch coachen noch sozialarbeitern können.


Wer jetzt glaubt, dass der gute Herr Kluschatzka-Valera da übertreibe, der mag sich einfach selbst auf Forschungsreise durch die Lehr- und Bildungslandschaft begeben. Der mag Diskussionen der scientific community lauschen. Der mag die Fachliteratur daraufhin absuchen, was dort im Fokus steht.
Sehr, sehr gerne lasse ich mich in diesem Punkt widerlegen: Das sei nur an den Universitäten, an den Fachhochschulen, in den Lehrgängen, in den Supervisionen, in den Meetings, in der scientific community so, in der ausgerechnet ich verkehre. Ansonsten sei es eben nicht nur theoretisch („Wissenschaft“), auch nicht nur bloß praktisch („Lagerfeuer“), sondern ein methodischer Zugang zu Beratung, Coaching und Sozialer Arbeit. Ansonsten könnten alle Gitarrenlehrer auch genau das spielen, was sie begrifflich darstellen. Ich irre mich, um mich zu wiederholen, sehr gerne in diesem Punkt und mit diesem Beitrag.


Ich selbst, das möchte ich betonen, schätze die Wissenschaft. Ich würde mich auch als Wissenschaftler bezeichnen. Mir ist dabei lediglich eines wichtig: Wenn ich schon mich wissenschaftlich mit der Gitarre beschäftige, um dies andren Menschen vermitteln zu können, dann finde ich es auch wichtig, dass ich dabei auch tatsächlich Gitarre spielen könne. Denn erst der gespielte Ton macht die Musik. Wenn niemand mehr einen Ton spielen kann, versiegt die Musik. Dann bliebe nur mehr die musikleere – oder wie Friedrich Nietzsche sagen würde – blutleere Theorie.


Ein Anliegen des Blogs „Hypnosoziale Systemik“ ist, dass Töne gespielt werden: lebendige und freudige Musik. Musik ist es wert, methodisch das Spiel sich anzueignen. Und es ist herrlich, sich an der Musik zu erfreuen.
Analog sei dies für Beratung, Coaching und Soziale Arbeit ebenso verstanden und angewandt.


Ich vertiefe diese Idee folgend gerne. Insofern trägt der nächste Beitrag den Titel: „Was die Soziale Arbeit vom Buddhismus lernen kann“.


Literatur


Bardmann, Theodor (?): Die Eigenschaft der Eigenschaftslosigkeit. Gefunden am 20.04. 2022 auf https://www.systemagazin.de/bibliothek/texte/bardmann_eigenschaftslosigkeit.pdf.


Kleve, Heiko et. al. (2021): Systemisches Case Management. Falleinschätzung und Hilfeplanung in der Sozialen Arbeit. 6. Auflage. Carl-Auer: Heidelberg.