Ambivalenz - die Normalform unserer Existenz

Ambivalenz, also die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen zwischen den Dimensionen des Denkens, Fühlens und Handelns ist eine Existenzform, die wir in unserer sozialen Welt als alltägliche Normalität bewerten können. Philosophen, die zum Ende des 20. Jahrhunderts eine postmoderne Gemüts- und Geistesform beschworen haben (etwa Jean-François Lyotard, Zygmund Bauman und Wolfgang Welsch), empfahlen, mit der Ambivalenz Frieden zu schließen. Denn das Mindeste, was wir angesichts unserer komplexen Weltverhältnisse konstatieren können, sei eben die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen. Demnach sollte eher zu viel und zeitlich lang ausgedehnte Eindeutigkeit skeptisch machen.


Wenn uns die Welt mit einer Vielfalt von Einflussfaktoren sowie dadurch angeregten unterschiedlichen Möglichkeiten des Bedenkens sowie des emotionalen Bewertens und Handelns konfrontiert, dann sind das kognitive Nicht-Wissen, die gefühlsmäßige Verwirrung und die aktionale Hilflosigkeit Kennzeichen für einen normalen Zustand, den es zunächst auszuhalten gilt. Nicht-Wissen, Verwirrung und Hilflosigkeit könnten, so Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer,[i] gar als drei kraftvolle Ressourcen bewertet werden, die uns helfen, dort anzukommen, wo einzig und allein Wandel geschehen kann: im Hier und Jetzt.


In der örtlichen und zeitlichen Gegenwart gilt es, inne zu halten, die eigene Existenz des Denkens, Fühlens und Handelns zu fokussieren, sich der Flüchtigkeit der Gedanken, der Gefühle und Impulse, die kommen und auch wieder gehen, zu vergewissern. Denn wer angesichts von Ambivalenzen durch ungeduldiges Handeln zu zügig entscheidet, um eilig aus den inneren Spannungszuständen zu kommen, wird sich möglicherweise im Nachhinein ärgern, weil deutlich wird, dass andere Möglichkeiten, mithin die Kontingenzen, die mit jeder komplexen Situation einhergehen, zu schnell eliminiert wurden.


Wenn wir unter Ambivalenz leiden, weil wir etwas Denken und Gegenteiliges fühlen sowie schnell ins Handeln kommen wollen, dann sollte zunächst tief in die Komplexität der Situation eingetaucht werden. Sämtliche Einflussfaktoren, die Vielfalt der Gefühle, die sich mit diesen und den möglichen Handlungskonsequenzen ergeben könnten, sind ausführlich zu reflektieren, zu erspüren und hinsichtlich eintretender Handlungseffekte zu ergründen. Dabei helfen Gespräche, bei denen die Gesprächspartner vor allem aktiv zuhören, also das Verstandene paraphrasieren sowie wahrgenommene Emotionen verbalisieren. Auch eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Komplexität des herausfordernden Themas kann dabei unterstützen, also beispielsweise ein Bild darüber zu malen, ein Gedicht zu reimen oder entsprechende Aphorismen zu schreiben.


Eine besonders elaborierte Möglichkeit für eine Ambivalenz-Reflexion ist die Systemische Aufstellung. Damit lassen sich zahlreiche Aspekte der komplexen Herausforderung räumlich erfahren und intensiv hinsichtlich ihrer kognitiven, emotionalen und aktionalen Dimensionen wahrnehmen.


Wenn dies geschehen ist, dann gilt es jedoch weiterhin, nichts zu überstürzen, sondern in den kommenden Stunden und Tagen die inneren Bewegungen, Haltungen und Impulse weiter „heranreifen“ zu lassen, um wahrzunehmen, zu erspüren, wie sich die Entscheidungsmöglichkeiten entwickeln, die Wirklichkeit bereits verändert und die Ambivalenzen ins Schwingen gebracht haben. Möglicherweise liegen die notwendigen Aktionen des Entscheidens dann bereits auf der Hand, formen sich gedanklich im Kopf und bewegen freudig, aufgeregt, aber möglicherweise auch etwas angstvoll das Herz.


Denn jede Entscheidung konfrontiert uns wiederum mit Ambivalenz. Entscheiden kann euphorisch und lustvoll wirken, aber zugleich auch traurig machen. Denn mit jedem Ent-scheid, jedem Einschnitt in die Welt der Möglichkeiten richten wir uns auf bestimmte Wege aus und versperren andere, eben die nicht gewählten. Da die Zeit nach vorne fließt, die Vergangenheit nicht veränderbar ist, öffnen Entscheidungen Türen, während sie zugleich andere Türen endgültig verschließen.


Wer aber angesichts solcher Situationen alle Optionen festhalten will und gänzlich entscheidungslos bleibt, könnte am Ende alle möglichen Wege und Türen aus dem Blick verlieren und sich im Nirgendwo verlaufen. Darum ist das Entscheiden angesichts der alltäglichen Ambivalenzen kaum zu umgehen – nach kluger Reflexion, sensibler Innenschau und Abwägen der möglichen Effekte unserer realen Handlungsalternativen. Wer dies tut, nimmt sein Leben verantwortlich in die eigenen Hände und weiß, dass dies immer wieder erneut in ähnlicher Form zu realisieren ist.


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[i] Vgl. Matthias Varga von Kibéd & Insa Sparrer (2014): Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker und solche, die es werden wollen. Heidelberg: Carl Auer, S. 171f. 8. Auflage.