Sounds of Science /  Monika Röder - Sex, der es wert ist, gewollt zu werden

"Der kleine Sex-Retter". Eines der Fachbücher für jede:n, von dem gesagt wird: "Das empfehle ich jeden Tag mindestens einmal in meiner Praxis."
Was bedeutet hier aber "Rettung"? Worin besteht die Not?
Die erfahrene Paar- und Sexualtherapeutin Monika Röder, ebenfalls Autorin des beliebten Ratgebers "Der kleine Ehe-Retter", spricht zuerst an, was häufig eben nicht passiert: Ein offenes Reden, ein forschendes Miteinandersein, und vor allen Dingen: Fragen, wo man etwas nicht weiß – und das auch anatomisch – und wobei man sich nicht scheut, neugierig darauf zu sein. Wie ist das nochmal mit dem klitoralen Organ? Was läuft da ab in diesem vegetativen Nervensystem? Und warum suchen wir immer nach Lösungen von außen - Operationen, Spielzeug oder Clubs - und begegnen uns nicht da, wo wir eh schon sind: Bei uns selbst?



Ob im Auto, im Bett, in der Badewanne, mit der Maske im Bus oder im Zug, beim Warten am Bahnhof oder Flughafen, beim Einkauf oder vor der Bank, beim Joggen und Kochen alleine oder mit Partnern: Bleiben Sie wach, mit Carl-Auer Sounds of Science! Und, wo immer es geht, den freien Blick und den freien Geist nutzen: Carl-Auer Bücher lesen, Carl-Auer Wissen nutzen!


Transkription des Interviews


Ohler Hallo liebe Monika Röder, ich grüße dich zum Gespräch mit Carl-Auer.


Röder Hallo Matthias, schön, dass du mich wieder eingeladen hast.


Ohler Sehr gern. Danke, dass du dir die Zeit nimmst, hier wieder ein Gespräch zu führen. Nach dem kleinen Ehe-Retter hast du jetzt den kleinen Sex-Retter geschrieben. Der kleine Ehe-Retter kam im letzten Jahr auf den Markt und erfreut sich großer Beliebtheit. Jetzt kommt der kleine Sex-Retter, und der bietet so viel und das, wie ich finde, sehr gut sortiert. Wir können hier im Gespräch nur ein paar Sachen auswählen. Deswegen frage ich jetzt aber gleich mal direkt: wer oder was soll jetzt da gerettet werden? Oder was vielleicht auch nicht? Und worin besteht eigentlich die Not, sozusagen, wenn man von Rettung redet?


Röder Ja, okay, also vielleicht muss man dazu sagen: Die Not ist tatsächlich da. Und das war mir auch nicht so klar, noch vor Jahren. Und je mehr ich hinter die Türen gucke, der Häuser sozusagen, je mehr ich mit Paaren arbeite, umso mehr sehe ich, wie groß tatsächlich die Not ist beim Thema Sexualität. Aber das erzählt natürlich niemand, einfach so direkt an der Supermarktkasse, oder auch nicht beim Skatabend. Das ist wie so ein geheimes Leiden, das ganz viele Menschen betrifft. Und ich glaube auch, das ist einfach so normal, dass wir alle damit auch schon unsere Krisen, unsere Probleme gehabt haben. Unsere Momente, in denen irgendwas nicht gut funktioniert hat, irgendwie Ängste, Stress, Gefühle, die nicht in Ordnung waren. Und es war einfach ein großes Bedürfnis von mir, das mal offenzulegen, die Menschen an die Hand zu nehmen, ein paar Dinge zu erklären, die eigentlich leicht zu verstehen sind, aber eben nicht so Mainstream. Und deswegen habe ich den kleinen Sex-Retter geschrieben.


Ohler Ich kann dem auch durchaus zustimmen. Man spricht ja davon nicht der Supermarktkasse oder am Stammtisch, und vor allen Dingen nicht in der Form, wie du das dann anbietest. Zu sagen: Da gibt es ein paar Ideen – ich sag jetzt mal Lösungen oder Lösungsideen, Handwerkszeug, Zugangsweisen. Wir haben es vielleicht auch erleichtern, dann doch mal das zu thematisieren. Du hast ein paar Orientierungen in die dich leiten, wie ich das verstehe, bei diesem "Rettungsprojekt. Drei sind mir da im Kopf. Das ist dieses berühmte Sexocorporel – da würde ich dich dann gern gleich fragen – die Polyvagaltheorie, und Systemik. Du schreibst im Einstieg von einem roten Faden eines sexologischen Ansatzes, der dich leitet, Sexocorporel. Man hört das immer wieder mal, eher so im professionellen Bereich, und für manche klingt es vielleicht wie eine Geheimwissenschaft. Kannst du in ein paar Minuten jedenfalls andeuten: Was bedeutet Sexocorporel CA, SoS, Ruth Seliger, März 2022 und was ist das Besondere daran?


Röder Also der Sexocorporel, das ist ein sexualtherapeutischer Behandlungsansatz, der nicht so jung ist ¬ von dem Kanadier Jean-Yves Desjardins entwickelt¬, aber sich in letzter Zeit einfach größerer Beliebtheit erfreut, weil er – vielleicht ist das so ein Qualitätsmerkmal – er die Dinge wirklich sehr beim Namen nennt. Also wir sprechen wirklich konkret über Sexualität, wir sprechen über sexuelle Erregung, wir sprechen über die Genitalien und wir sprechen, was wir miteinander machen, wo, wie, auch in der Behandlung dann. Es ist sehr direkt, mehr oder weniger. Und, wie soll ich sagen, nicht so verhüllt, auch nicht verschämt. Und da wirklich konkrete sexuelle Situationen gut reflektiert und behandelt werden miteinander. Die Therapeutin berührt nicht im Sexocorporel, wie in manchen anderen Behandlungsansätzen vielleicht, aber es werden doch auch Genitalien zum Beispiel symbolisiert. Der Mensch kommt wirklich in ein tiefgreifendes Verständnis für sein eigenes sexuelles Funktionieren, sozusagen. Und das ist vielleicht auch noch mal ein anderer roter Faden durchs Buch. Ich finde das ganz, ganz wichtig, dass wir unser eigenes sexuelles Funktionieren verstehen. Dass wir kapieren, wie wir da ticken und wieso, wo das herkommt und wie der Körper funktioniert, und die Seele, und die Anziehung, und die Gedanken, und warum die mal plötzlich positiv sind und dann wieder negativ ,und wie wir in Stress geraten, wie wir wieder rauskommen können. Das ist dann übrigens auch die Schnittstelle, mehr oder weniger, zum Polyvagaltheorie. Da sind wir auch sehr direkt am Körper. Da sind wir sehr direkt am vegetativen Nervensystem. Und das ist sehr hilfreich zu verstehen, was da innendrin passiert.


Ohler Das eine ist dieses vegetative Nervensystem, da will ich gleich noch mal drauf eingehen. Aber du hast auch von den Genitalien gesprochen, da gibt es ja auch sehr unterschiedliche Vorstellungen. Beispielsweise zur Klitoris. Was ist das überhaupt? Und sind wir darüber klar, was das eigentlich für ein ...


Röder... Organ ...


Ohler Organ ist und was das bedeutet?


Röder Ja, genau.


Ohler Da gehst du auch drauf ein im Buch.


Röder Stimmt genau. Ich habe mit einem anatomischen Teil in dem Buch angefangen. Das ist vielleicht ein bisschen schräg.. Ich habe erst ein bisschen gezweifelt, weil es dann so ein bisschen Schulbuch mäßig vielleicht daherkommt. Aber ich finde es so wichtig, weil genau in dem Punkt so viel – da sind wir wieder beim Leid – bei den Menschen ist, die denken: Ach, guck mal, das hat doch früher funktioniert. Warum funktioniert es denn jetzt nicht mehr? Oder wir machen es doch so wie in den Filmen, die wir dauernd sehen. Und komisch, ich spüre nichts. Es ist wirklich so, mit diesen Fragen kommen auch die Menschen zu mir in die Praxis. Auch sehr junge. Also ich habe ganz junge Frauen, zum Beispiel, in der Praxis, die mich Dinge fragen wie: Ist das komisch oder funktioniere ich richtig? Was ist bei mir verkehrt, dass ich das nicht erregend finde, wenn er mir ins Gesicht ejakuliert, oder anal, oder was weiß ich, solche Dinge. Das war mir wirklich ein Anliegen, noch mal dieses klitorale Organ zu erklären, weil eben zum Beispiel – auch das wieder ein roter Faden durch das Buch – dem ganz stinknormalen heterosexuellen Geschlechtsverkehr, Penis in Vagina, da hat die Frau nicht genügend Stimulation. Also ganz rein biologisch betrachtet. Und das war mir wichtig, noch mal zu erklären, wie funktioniert das? Wo genau läuft dieses klitorale Organ lang? Wie möchte das berührt, versorgt, stimuliert werden? Wie ist es mit den Nervenendigungen, die an der Vulva und an der Klitorisperle sich finden? Das wissen viele Menschen komischerweise nicht. Was heißt komischerweise, bei uns könnte man das ja noch verstehen, so mittleren Alters oder – wie soll ich sagen – ältere Semester, die vielleicht ein bisschen verklemmter aufgewachsen sind. Aber auch die ganz junge Generation, die mit Pornografie sozialisiert ist, die sehen andere Dinge und wundern sich dann, dass es nicht so funktioniert im Bett. Und dass die Frau es nicht so toll findet, und auch der Mann nicht.


Ohler Da gibt es ja auch im Buch – ich will es jetzt nicht total ausstülpen, kann man dann auch nachlesen – schöne Hinweise über Bewegungspraxis, zum Beispiel, dass es eine andere Bewegungspraxis gibt als die, die man normativ im Kopf hat, oder die viele im Kopf haben und dann auch praktizieren und sich wundern, dass nix geht. Da wirklich andere Ideen zu haben.


Röder Richtig. Dafür hilft es zum Beispiel zu wissen, dass eben die Vagina mehr oder weniger ein relativ gefühlloser Hautschlauch ist. Und das klitorale Organ, oder die Klitoris, ist eben das Pendant zum Penis. Dort sind die vielen Nervenendigungen, und die haben eben gern Stimulation. Die haben eben nicht Reiberezeptoren, gell, wie wir es eben, wenn wir Pornos gucken, sehen: Rein, raus, rein, raus. Sondern da sind Druck- und Wärmerezeptoren drin. Das freut frau mehr, wenn du verstehst, wenn auch bei der Penetration, beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr, wenn die beiden Genitalien ineinander stecken, wenn da einfach eine langsamere Bewegung ist. Weil das klitorale Organ ja nicht außen liegt, wie der Penis, sondern indoor und deswegen eher indirekte Stimulation mag. Also ich finde das einfach wichtig, weil das nicht alle Menschen wissen. Deswegen habe ich es mal aufgeschrieben.


Ohler Ja, ich finde das sehr verdienstvoll, auch diese vielen praktischen Sachen, die –um zum Anfang noch mal kurz eine Brücke zu schlagen – die es vielleicht auch erleichtern zu reden. Da, wo man bislang sagt: Ich weiß gar nicht, wie ich das ansprechen soll, aber die Not ist da.


Röder Das ist so wichtig, das Gespräch. Und ja, genau deswegen habe ich es ja auch aufgeschrieben, weil 1. Wir sprechen nicht über Sexualität im Alltag, normalerweise. Und wenn, dann sprechen wir in einer sehr allgemeinen, abstrakten Form darüber. Also so ein bisschen, wie du und ich das jetzt auch gerade machen. Aber das, was wirklich du mit deiner Partnerin machst, oder ich mit meinem Mann, was die Menschen miteinander direkt machen, ihre ureigenste Sexualität, darüber wird sehr wenig gesprochen. Und wenn, dann kippt es ganz leicht, ganz schnell. Das sind wir so leicht triggerbar, das sind wir so verletzlich. Und dann wird es gefühlt destruktiv. Dann wird das Gespräch wieder abgebrochen, dann kommen die tiefen großen Verletzungen von Sich-generell-sehr-abgewiesen-fühlen, und abgelehnt, unattraktiv oder unter Druck gesetzt und benutzt, oder was auch immer. Diese Themen. Und das Gespräch ist wieder erstorben. Also ich möchte wirklich dazu einladen – und das ist auch mein Vorschlag zur Nutzung dieses Buches – das echt zusammen durchzuackern. Gar nicht so sehr wegen des Wissenszuwachses, mehr oder weniger, sondern wegen des Gesprächs, das die beiden dabei miteinander über sich führen. Die lesen ein paar Seiten zusammen, dann legen sie das Ding zur Seite ,und dann sagen sie: Du, ehrlich, ich habe auch das Gefühl, das kenne ich. Oder: Wie ist das bei dir eigentlich? Und dann erzählt der andere: Also, nein, das ist nicht mein Problem, aber stimmt, hier an der Stelle, das kenne ich auch. Dann sind sie wirklich in einem wichtigen Gespräch.


Ohler Noch mal kurz zur Polyvagaltheorie, die ist ja auch in aller Munde und wird immer populärer. Du hast dich auch im Ehe-Retter schon unter anderem darauf bezogen. Was versteht man eigentlich besser, gerade in sexuellen Dynamiken oder in sexuellen Kontexten, vielleicht im Funktions-Modus von Sexualität und Kommunikation über Sexualität, wenn man die Polyvagaltheorie versteht? Große Frage, aber vielleicht ein paar Sätze dazu.


Röder In der groben Form habe ich das im kleinen Ehe-Retter ja schon mal erklärt, weil's eben hilft, dieses Triggergeschehen, dieses wechselseitige partnerschaftliche, leichter zu durchschauen. Wann und wie drück ich bei dir einen Knopf? Wie drückst du bei mir einen Knopf? Was löst das innendrin im autonomen Nervensystem autonom für eine Kettenreaktion aus? Wie schalten wir dann autonom auf einen Defensiv-Modus und werden kämpferisch, streiten oder vermeiden? Oder gehen weg oder stellen uns tot und hören gar nichts mehr, da rein da raus, und so? Und dann, wenn wir das durchschaut haben, können wir schon mal die Paardynamik ein bisschen besser steuern, gestalten. Und in der sexuellen Dynamik hilft´s auch zum Verständnis nochmal. Ein bisschen differenzierter, ein bisschen komplexer wird es da. Denn da können wir nicht mehr nur so ganz grob sagen: Oh, jetzt bin ich irgendwie im Kampfmodus, jetzt möchte ich streiten, oder jetzt bin ich irgendwie totgestellt. Sondern es braucht für eine funktionierende Sexualität ein ausbalanciertes Nervensystem, von beiden. Es braucht ein bisschen sympathische Aktivierung, um das Ganze überhaupt noch spannend und aufregend zu finden, um was zu wollen, um fokussiert zu sein auf den anderen und was attraktiv zu finden. Das ist Sympathikus, Mobilisierung. Und es braucht auch Entspannung. Es braucht auch den Partasympathikus, also den ventralen Vagus, und auch den dorsalen Vagus auf eine Art, um in so einen Genuss reinzukommen, also um die Durchblutung in den Genitalien zu ermöglichen und zu fördern und so eine Wahrnehmungsfähigkeit im Körper entwickeln zu können und das miteinander zu kombinieren.


Ohler Hat das auch was mit Sicherheit zu tun, fällt mir gerade spontan ein? Also dieses Neugierigsein, und gleichzeitig auch ein Gefühl haben: Ich bin mir sicher.


Röder Ja, genau, auch dafür ist das Verständnis der Polyvagaltheorie wichtig, denn wir kommen dann in den ventralen Vagus, wir kommen dann in eine Entspannung. Wir werden dann komplett, unser Gehirn funktioniert dann vollständig, wenn wir uns sicher fühlen. Das ist mehr oder weniger die Basis. Und auf dieser Basis spielen wir aber dann wieder mit der Aufregung, mit der sympathischen Aktivierung wieder, und mit ein bisschen was Verbotenem und ein bisschen Stress vielleicht auch drin, oder Geheimnis, oder Unbekanntem, was auch immer für Reizen. Das ist wirklich ein wichtiges Element. Und noch mal ein anderes, noch mal ein dritter Gedanke hintendran: Eine wichtige Schnittmenge zwischen den Konzepten – und auch wichtig aus der Polyvagaltheorie – ist, wie wir uns regulieren können, nämlich über Bewegung und über den Atem. Und damit können wir auch Erregung steuern, sozusagen. Wir können auch die Wahrnehmung vertiefen und wir können auch Spannung steigern, durch Bewegung, Spiel mit dem Muskeltonus, Spiel mit dem Atem.


Ohler Alles eine Art von Selbstregulation, um sich miteinander gut zu regulieren. So hab ich das verstanden jetzt.


Röder Genau.


Ohler Es werden dann sehr ausführlich auch Übungen angeboten. Das klingt immer so ein bisschen sportlich, aber einfach Ideen: Was kann ich machen, dass ich da in einen guten Flow und guten Modus komme, oder wir miteinander. Noch mal so ein bisschen abstrakt und dann ganz konkret. Du sprichst von spricht von drei Herzstücken langlebiger Erotik, da springe ich jetzt mal hin. Du bist ja im Buch ganz bewusst fokussiert auf eher langlebige Partnerschaften. Man kann ja nicht alles beschreiben. Die drei Herzstücke: Kommunikation – da haben wir auch schon drüber gesprochen – der bewegte Körper und Kontext. Zum Kontext will ich nachher nochmal kurz kommen. Aber es gibt zwei Fragen, die du ansprichst: Es gibt reden, es gibt miteinander schlafen. Frage: Was vorher, was nachher? Wie beides oder mal das eine oder das andere?


Röder Also meine Antwort lässt das Ganze offen. Je nach Situation. Ja, aber das, was du ansprichst, das stimmt. Das ist ein Grunddilemma in langjährigen Partnerschaften und – um ein bisschen stereotyp zu bleiben, weil das halt immer noch das verbreitetste ist – : Der Mann ist oft der Verlangensstärkere, die Frau oft,die Verlangensschwächere, insbesondere in den mittleren Lebensjahren, wenn kleine Kinder da sind und so weiter, in der Rushhour des Lebens. Daher kommt ja auch dann dieser blöde Spruch – wie heißt der gleich – : Frauen schlafen mit ihren Männern, damit die mit ihnen reden. Und Männer reden mit ihren Frauen, damit die mit ihnen schlafen. Also ein bisschen weniger platt gesagt: Frauen müssen entspannt sein, um Sex haben zu können, und Männer haben Sex, um sich zu entspannen. Und das hat auch ein bisschen wirklich schon was Geschlechtsspezifisches, da gibt es auch Untersuchungen dazu, dass wirklich bei Frauen die Lust, wenn sie unter Stress sind, einfach nicht da ist. Und bei Männern ist es eben ein leichterer Spannungsabbau. Jetzt sind wir aber bei "Kontext". Es hat auch damit zu tun, wie was erlernt wurde. Viele Männer haben es einfach so erlernt, dass sie eigentlich eine ganz gute Beziehung zu ihrem Penis haben und Selbstbefriedigung gut funktioniert und die Sexualität eigentlich auch gut funktioniert. Und dann ist es für die, wenn sie es dann eben auf die eine, also angeblich klassische Art und Weise machen, penetrativen Geschlechtsverkehr, dann haben die auch schneller mehr davon, und dann ist für die auch entspannender. Und wie auch immer, bei Frauen ist es halt dann manchmal so, wenn dann eh die Lust schon nicht da ist und der Stress aber da ist, dann fühlt es sich eher so an, wie: Das jetzt auch noch, das ist ja Arbeit, es ist ja Stress. Also Sexualität ist sehr kontextbezogen – du hast es gerade gesagt. Auch da gibt es einen Geschlechterunterschied. Eher Frauen haben ein sogenanntes kontextbezogenes Begehren, das heißt, es ist wirklich abhängig davon, wo sie gerade sind, wie sie gerade drauf sind, wer es alles hören kann, was sie gerade gemacht haben, was sie danach machen, wie sie sich fühlen, ob sie bgeduscht sind oder auch nicht. Und Männer, die haben eher ein spontanes Begehren. Ach, ich sehe da gerade jemand mit einem boah was für schicken Rock. Was für tolle Beine. Bling! Das könnte ich mir jetzt gerade vorstellen. Oder: Oh, ich habe gerade Zeit, das wäre doch jetzt mal nett zwischendurch. So ist es halt oft.


Ohler Bringt mich zu der Frage – den Begriff hast du auch verwendet – es gibt diese Idee von "Sex worth wanting", also Sex, der es wert ist, gewollt zu werden. Du hast von Begehren gesprochen. Was kann man sich darunter vorstellen, "Sex worth wanting". Und wieso ist es wichtig, sich damit zu beschäftigen, um vielleicht zu besserem Sex zu kommen, zu einer besseren Sexualität? Kann man das so sagen?


Röder Weil die Lust auf Sex mit der Lust am Sex kommt. Das ist so ein Zitat von Karoline Bischof. Und das, was du ansprichst, stammt von Peggy Kleinplatz, einer kanadischen Sexualforscherin, die eben auch viel dazu geforscht hat und dabei festgestellt hat, dass die Menschen eher Lust haben, Sex zu haben und dann eben auch eher erfüllenden, befriedigenden Sex haben, die auch eine Sexualität haben, die es wert ist, gewollt zu werden. Und diejenigen, die eben eher Sex haben so nach dem Motto "good enough" oder "ja, muss, gehört halt dazu" oder "er braucht´s halt" oder was auch immer, "tut ja nicht weh", oder was weiß ich – so was ist nicht der Motor, der eben auch ein Mehr begünstigt und der dann eine positive Kettenreaktion in Gang setzt, dass es eben wirklich zu so einem "Boah!" wird, "Ich will das jetzt und ich habe da auch was davon".


Ohler Du hast ja viel Erfahrung mit Paarberatung, unabhängig von Sexualität. Es wird wahrscheinlich oft eine Rolle spielen, aber es gibt ja, denke ich mal – du hast vorhin auch von jungen Paaren gesprochen, die bei dir sind oder die auch miteinander in Herausforderungen sind –gibt es irgendwelche Herausforderungen, wo du sagen würdest, die sind doch relativ zeitspezifisch? Zum Beispiel gerade in der letzten Dekade. Gibt es solche, die ganz konkrete Sex betreffen und wo du sagen würdest, dass da irgendwie Normen sind oder Erwartungshaltungen? Gibt es da irgendwas, wo du sagen würdest, das sind jetzt gerade spezifische Herausforderungen, und gerade solche, die den Sex angehen oder betreffen werden?


Röder Was vielleicht ein bisschen zeitspezifisch ist – weiß ich jetzt nicht sicher, aber so ein bisschen gefühlt – dass wir versuchen eher an äußeren Schrauben zu drehen. Also Anregung außen zu holen: Komm, wir probieren doch mal dies und das und gucken noch den Film, oder gehen mal in einen Swinger-Club, oder nehmen noch Spielzeug dazu, was auch immer. Oder lass uns experimentieren mit der Beziehung, eine offene Beziehung wär für mich viel interessanter, oder eigentlich bin ich polyamor gestrickt und kann mehrere lieben, und so. Also da habe ich das Gefühl, das ist so ein bisschen ein Zeittrend, eher nach außen zu gucken. Und das ist mir eben auch ein Anliegen im Buch, eher nach innen zu gucken, okay, und eher zu schauen, was passiert genau bei mir, was brauche ich und wieso und wo? Was steht mir im Wege, das zu initiieren auch, wie auch immer dahin zu kommen? Statt eben äußere Lösungen zu finden. Und was anderes, was mir auch noch einfällt: Ich glaube auch ziemlich zeitspezifisch ist – ich habe es vorhin schon mal erwähnt –, dass es doch auch viele Modelle gibt, die nicht so guttun. Das ist eben einmal, unter Umständen, Pornografie oder dieser Bereich, aber auch generell alles wie soziale Medien, Influencer, dieser Schönheitshype, Optimierungshype. Es gibt so viele Schönheits- und Genitaoperationen wie nie. Also wenn du in einer Großstadt – hat mir gerade eine Patientin erzählt – wenn du eine Gynäkologin suchst, die bieten inzwischen alle Genitaloperationen an, weil irgendwie das Hymen wieder verkleinert werden muss, die Vagina verengt werden muss, irgendwie die Vulva-Lippen nicht schön genug sind, nicht symmetrisch genug, was auch immer. Oder der Penis natürlich, nicht groß genug, nicht lang genug oder was so gefühlt die Vergleichsgrößen sind. Das macht brutal viel Stress heut, macht ganz vielen Menschen, und auch ganz vielen jungen Menschen, echt viel Stress.


Ohler Gibt es einen Punkt, wo du sagen würdest – und ich meine nicht diese Operationen, wenn ich diese Frage stelle, die jetzt kommt – wo du sagen würdest, es ist jetzt vielleicht doch angeraten, einer bestimmten Konflikt- oder Problem-Konstellation, eine professionelle therapeutische Begleitung in Anspruch zu nehmen? Oder kann man das gar nicht sagen, wann der Punkt erreicht ist? Oder wie merkt man, dass man sagen könnte: Wunderbar, jetzt gehen wir mit dem Sex-Retter auch noch zum Profi?


Röder Je früher, je lieber. Weil alles was noch im Lern- und Entwicklungsprozess ist und da irgendwie beratend geführt, gestaltet, neu ausgerichtet, korrigiert werden kann, ist natürlich leichter therapeutisch zu bearbeiten als alles, was chronifiziert ist. Wenn da schon jahre- und jahrzehntelange Verletzungen auf der Seele sind und Vermeidungsverhalten und so, das ist dann natürlich nicht mit ein oder zwei Stunden zu lösen, zu ändern, einfach weil's so tiefgreifende Implikationen bis hin zu wirklich einem physiologischem Niederschlag im Gehirn hat, und im vegetative Nervensystem. Sexualität ist einfach was Erlerntes. Auch da gibt es einfach Mythen der Art: Boah, das ist ein sexuelles Naturtalent, oder so. Aber ganz ehrlich, das sind Menschen, die haben das auch gelernt durch viele, viele kleine Mosaiksteinchen, die so eine Positivität dazu schon in Kinderschuhen mehr oder weniger angelegt haben, und durch positive Erfahrungen dann im Experimentieren und immer wieder einem Antrieb, neugierig zu sein, dazuzulernen und so weiter. Also ich möcht dazu motivieren zu lernen, neugierig zu bleiben, und da ist Beratung, Therapie, egal wie du es nennst, sicher ein wichtiger, hilfreicher – wie soll ich sagen – Weichensteller ..., oder kann das sein ...


Ohler... einfach sich mal begleiten lassen und es nicht gleich als Krankheitswert zu identifizieren ...


Röder Absolut, genau. Ich meine, wir Systemiker sind ja sowieso ständig am Entpathologisieren, da ist überhaupt nichts irgendwie krank oder verkehrt oder so was. Die allermeiste Dinge, die die Menschen da bringen, die sind so normal, und insbesondere wenn man einfach auf die Lebensgeschichten guckt, die sind einfach sehr, sehr logisch, verstehbar im System genau dieses Menschen.


Ohler Gucken wir kurz auf die großen Krisen, – aber nicht, um die großen Krisen zu lösen, sondern wir leben ja jetzt seit einiger Zeit in doch sehr herausfordernde Zeiten. Eigentlich immer, aber diese Zeiten werden von vielen jetzt noch einmal speziell als herausfordernder erlebt. Ich könnte mir vorstellen – wenn wir noch mal bei dem Thema Kontext sind – die bilden ja auch einen Kontex; für Paardynamiken, wie Paare das bewältigen, und vielleicht auch für Sexualität. Ist dir irgendwas aufgefallen, in deiner Praxis oder in einer Beobachtung, dass sich da etwas entwickelt hat? Dass dieser Kontext irgendwie eine besondere Auswirkung hat, zum Beispiel auf Sexualität oder ganz konkrete sexuelle Problemkonstellationen?


Röder Okay, also der größere gesellschaftliche Kontext ... Du meinst jetzt eher Pandemie oder Krieg oder ...


Ohler... Pandemie, Krieg, beides ...


Röder Okay ... also was natürlich das größte Problem ist – und das ist ja, glaube ich, auch schon ein bisschen öffentlich diskutiert worden –, dass in der Pandemie diese Homeoffice-Pflicht das Begehren nicht unbedingt allzu sehr gesteigert hat. Also am Anfang vielleicht schon, in den ersten zwei, drei Wochen, als die ersten Menschen nach dem ersten Lockdown noch dachten: Oh, ist das entspannend, wow, wir haben endlich Zeit für die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Wir gehen zusammen spazieren. Schön. Und – was weiß ich – holen uns noch einen Rotwein aus dem Supermarkt. Und dann haben wir mal wieder schön Sex und so. Aber mit der Zeit ist das eben nicht mehr so wahnsinnig anziehend gewesen, die Schmuddel-Partner zu Hause zu sehen in der abgewetzten Jogginghose, wie auch immer. Ja, und es ist eben so: Begehren lebt von diesem Spannungsfeld aus, Anziehung, Fremdheit, Nähe, Distanz, Sicherheit, Unsicherheit – und da ist zu viel Nähe gewesen. Das ist schon mal per se ein Killer. Und dann kam noch dazu viel Anspannung unter Umständen, wegen Existenzängsten. Oder noch mal ein anderer Punkt: Selbstwert, etwas hat unter Umständen am Selbstwert geknabbert, an der beruflichen Perspektive, und solche Dinge. Wer bin ich denn noch? Das sind natürlich alles Implikationen, die nicht unbedingt sehr sexy sind oder sich so anfühlen. Und eben auch da wieder: Je kontextbezogener der Mensch gestrickt ist, umso stärker ist der Einfluss darauf gewesen, oder eben je unabhängiger davon. Da gibt es auch wieder einen geschlechtsspezifischen Unterschied. Männer können solche Dinge oft leichter ausblenden und dann eher trotzdem Sex haben, als Frauen, die dann irgendwie, wenn sie sich belastet fühlen, eben auch oft wieder kein Begehren haben. Wobei das alles sehr relativ ist. Es gibt wirklich gerade in den letzten Jahren wirklich einen deutlichen Trend dazu, dass eben auch die Frauen die verlangensstärkeren sind und die Männer eher diejenigen, die nicht so viel Lust haben. Es ist halt gesellschaftlich nicht so akzeptiert, und deswegen wird das nicht so laut an die große Glocke gehängt und schon gar nicht am Stammtisch beredet. Eben auch wieder gesellschaftlicher Kontext ...


Ohler Das beleuchtet, was du vorhingesagt hast: Sexualität ist gelernt, zumindest zu einem ganz großen Teil. Und deswegen gibt es eben auch solche Veränderungen vielleicht. Ich muss wieder meiner Rolle gerecht werden und auf die Zeit gucken, aber ich muss dir die klassische Carl-Auer Sounds-of-Science-Frage stellen: Gab es irgendwas, von dem du gedacht hattest: Oh ja, das kommt bestimmt als Thema, oder das werde ich gefragt, und dann kam das nicht. Oder ist dir im Laufe des Gesprächs noch was eingefallen, und du hast dir gesagt, das lege ich erst mal nach links, da liegt es jetzt aber immer noch. Oder gibt es vielleicht doch noch ein Statement?


Röder Ja, wir haben noch was übrig gelassen. Ich habe es vorhin tatsächlich vergessen zu erwähnen. Ich sage es jetzt noch, was auch in der Forschung von Peggy Kleinplatz rauskam, die eben diese große Studie gemacht hat und dann eben dieses Buch "Magnificent Sex" geschrieben hat, über großartigen Sex; was macht großartigen Sex aus? Also über Leute, die wirklich in ihrem Leben behaupten, wir haben echt gigantischen Sex. Wie ist der eigentlich? Welche Komponenten beinhaltet das und so. Wenn wir nicht mehr viel Zeit, dann brauchen wir da nicht drauf eingehen. Ich hab's ja aufgeschrieben. Es sind nicht so wahnsinnig überraschende Erkenntnisse drin, aber ein paar sind schon, finde ich, echt bemerkenswert. Eine zum Beispiel ist: Es muss nicht immer spontan sein. Die Menschen, die wirklich behaupten, sie haben großartigen Sex miteinander oder sie haben ihn gehabt, das war nicht so, wie viele denken "aah, das muss dann in mich kommen, ich muss es spüren, und dann müssen wir es machen, gleich und jetzt", sondern die machen irgendwas aus, und dann freuen sie sich, dann bereiten sie sich innerlich darauf vor und dann malen die sich das aus im Kopf, und dann kommunizieren sie schon dazu vorher und denken öfter dran, was ich nachher mit dem mache oder mit ihr oder so. Diese Intention, die da drinsteckt, die kann auch großartigen Sex begünstigen. Er muss nicht aus Begierde überfallartig, sozusagen, passieren. Und der andere wichtige Punkt, der mich auch ein bisschen überrascht hat und den ich auch sehr wohltuend finde – weil wir ja beide in der Altersgruppe sind: Den allerbesten Sex haben die Menschen ab 50. Also nicht: Für guten Sex muss man jung und schön sein, sondern es wird eigentlich immer besser. Es ist vielleicht bitte.


Ohler Das geht nicht nur pro domo, aber ich glaube, dem kann ich zustimmen.


Röder Genau. Also ist es bedeutet nicht, dass er schlecht war. Er war sehr aufregend, aber das, was das, was möglich wird, wenn man sich wirklich damit beschäftigt, ist eben, dass so eine genussvolle Komponente dazukommt. Und, ja, das finde ich ermutigend.


Ohler Das finde ich auch sehr ermutigend, muss ich sagen. Und ich finde ermutigend, dass es den kleinen Sex-Retter gibt, mit übrigens wunderschönen Illustrationen drin, bei denen man verweilen kann und die einfach auch viel helfen, das im Bild zu halten, was man da so liest. Monika Ich danke dir sehr viel Zeit für das Gespräch, für das Buch natürlich nicht nur im Namen des Hauses.


Röder Sehr gern.