Mit Antithesen Kooperationssysteme stärken

Gitta Peyn & Klaus Eidenschink im Gespräch


Dieser kleine Artikel ist ein schriftlicher Dialog, der aus einem Text von Gitta Peyn auf Linkedin entstanden ist. Er ist bewusst fragmentarisch und soll Denkbewegungen erkennbar machen. Damit soll der Leser auch eingeladen sein, virtuell selbst in das Gespräch mit einzusteigen und eigene Thesen an- und einzufügen.


GP: Wer meine Arbeiten kennt, weiß, dass ich mich unter anderem konsequent um Freiheitsethiken bemühe. Ich bin der Überzeugung, dass es nicht meine Aufgabe sein kann, anderen vorzuschreiben, wie sie zu leben, zu sprechen, zu denken haben. Ich bin begeisterte Demokratin, setze entsprechend auf konstruktive Einsatz- und Streitbereitschaft und teile – von einigen sprachlich meiner Ansicht nach veralteten Konstruktionen – die Gedanken unseres Grundgesetzes.


Von dort her kommen meine Überlegungen dazu, welche Art des Umgangs miteinander ich für sinnvoll halte und welche Werte mein privates und soziales Handeln bestimmen sollen.


Dazu gehört eine ganze Reihe von soft values, wie Einfühlungsvermögen, Respekt, Rücksichtnahme, die ich aber handlungsleitend unter "Freiheit" sortiere.


All diese Werte funktionieren paradox, was bedeutet, sie bringen stets ihr Gegenteil mit sich. Ich habe dazu in meinem Artikel über "Vertrauen" einiges geschrieben, das helfen kann, dieses Problem besser zu greifen. [1]


KE: Dieser Gedanke, dass das Gute nicht ohne das Böse existieren kann, dass Liebe aus Liebe und Hass „besteht“, dass Vertrauen ein Tanz von Vertrauen und Misstrauen ist, ist ebenso wichtig wie schwer zu verstehen! Denn jedes „Links“ vernichtet sich selbst, wenn es das „Rechts“ auslöscht. Dieser Zusammenhang ist gerade bei ethischen Fragen so wesentlich, da eben auch jeder moralische Wert, sich damit abfinden muss, dass es einen Gegenwert gibt, der im Widerspruch zu ihm steht.


GP: Danke!


"Sie bringen stets ihr Gegenteil mit sich" bedeutet, dass ich vorsichtig sein muss, wie ich mit diesen Werten umgehen will: Will ich sie kommunizieren? Wenn ja, wie? Möchte ich, dass sich auch andere um sie bemühen? Wie will ich das anregen oder gar durchsetzen?


Und vor allem: Was passiert, wenn ich diese Werte sozial mache – was bedeutet, sie als Werte zu kommunizieren?


KE: Hier liegt ein weiteres Problem begraben. Denn – Werte haben eine soziale Bedeutung, allerdings auch eine innerseelische, die oft übersehen wird. Werte dienen nämlich häufig der Abwehr von Ängsten, Schuld oder Scham! Man hat Angst vor seiner Wut oder der der anderen und nutzt deshalb den Wert „Friedfertigkeit“, um es wahrscheinlicher zu machen, dass Wut im Leben möglichst unwahrscheinlicher wird oder jedenfalls negativ gekennzeichnet werden kann. Wenn „Friedfertigkeit“ nun als Wert in die Kommunikation kommt, dann birgt sie von vornherein keine Freiheit mehr in sich. Andere wie man selbst müssen friedfertig sein. Daher wird dann mit anderen ein (erbitterter) Kampf um Werte geführt, der kommunikativ nur in Konflikt oder Kontaktabbruch führen kann.


GP: Wenn wir dazu einen Blick in die Geschichte werfen, wird schnell klar, wo das Problem liegt: Werte haben nicht nur Gutes bewirkt, sondern sie neigen dazu, schneller zu ideologisieren, als wir sagen können: "Aber ich habe es doch nur gut gemeint!"


Sie regen zu Gleichschaltungsverhalten an, zu Erziehungssystemen.


Linkedin ist dafür ein gutes Beispiel. Hier, wo sich fast jeder verkauft, gedeihen Erziehungssysteme in atemberaubenden Tempo, und die Beteiligten merken das oft gar nicht, wie sie – vielen Dank an Gerrit Beine für diese Anregung – damit verbundene kognitive Dissonanzen mitnehmen und langfristig nicht mehr dazu in der Lage sind wahrhaftig zu denken, zu sprechen, zu handeln.


KE: Ich würde – den Gedanken von oben aufnehmend – weniger von wahrhaftig sprechen als von frei, weil eben in den Werthaltungen Zwänge stecken.


GP: Wobei „Freiheit“ auch wieder paradox funktioniert...


Coaches und Berater sind dafür besonders anfällig, da sie dazu neigen, so gut wie alles, was ihnen begegnet, danach abzuklopfen: "Wie kann ich das nutzen, um noch mehr Kunden zu bekommen?" – weshalb sie auch noch besonders (auf besondere Weise) dazu neigen, abzulehnen, was ihnen zu kritisch vorkommt oder was vom Ton her für sie nicht verträglich ist, weil sie befürchten müssen, dass dies dazu führt, dass sie weniger Kunden haben und damit weniger Geld verdienen.


KE: Das teile ich. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel Anpassung an die Kunden geleistet wird. Ich mache selbst ganz andere Erfahrungen. Ich werde seit 30 Jahren engagiert, weil ich niemandem nach den Mund rede. Und ich arbeite wirklich mit einigen der Top-Leute der Wirtschaft. Da fehlt auch ein Stück Ermutigung und wechselseitige Rückdeckung in der Branche.


GP: So halte ich es auch. Ich finde das Phänomen interessant, dass ausgerechnet dort, wo Ehrlichkeit verhältnismäßig weniger Platz hat, gleichzeitig soft values besonders diskutiert werden – ein gutes Anzeichen [2] meiner Ansicht nach, das beobachten lässt, dass ernst gemeintes Interesse an besserer Arbeit dazu führen kann, dass mehr Wahrhaftigkeit selbst im Marketing möglich sein könnte.


Doch das Problem bleibt, dass aus soft-value-orientierten Kooperationsbestrebungen nicht zwangsläufig nachhaltige Kooperationssysteme entstehen, sondern dass im Gegenteil sogar soft-value-orientierte Kommunikation dazu führt, dass die Beteiligten mehr und mehr dabei sind, sich gegenseitig in den richtigen Ton zu erziehen, ohne es zwangsläufig zu bemerken, dass sie dies tun. Das bedeutet, dass es nicht nur dazu kommt, dass man sich darüber aufregt, wie sich jemand verhält, sondern dass es außerdem dazu kommt, Andere in die eigene Sichtweise hineinzukonditionieren. Wir müssen einfach wissen, dass mit spezifischen Gepflogenheiten wie soundso zu sprechen, sich die Hände zu schütteln, sich zu duzen, sich Küsschen zu geben, auch Realitätstunnel kommen, die nicht mehr weiter hinterfragt werden dürfen.


Getragen werden solche Kulturen durch postmoderne Ideologien wie beispielsweise die des "Postheroischen Zeitalters", das in den Köpfen einiger weniger Privilegierter über lange Jahre hinweg unter Ausschluss des Rests der Welt funktioniert hat, das jetzt aber, unter dem Druck von Krisen und Krieg, zeigt, dass es sich tatsächlich um ein Phänomen in Wirklichkeitsemulation handelt, befeuert durch Medien und Talk-Shows, die ihre postheroischen Heroen so konsequent getragen haben, dass für Viele sicherlich der Eindruck entstehen musste, dass wir die neuen Guten mit den neuen tollen Werten sind.


Doch Kriege und Krisen haben eigene Sozialstruktur mit eigener Semantik (Elena-Maria Beenen), für die wir Verständnis entwickeln müssen, wollen wir über Kriege hinaus und Krisen menschenwürdig für neue Anpassungs- und Orientierungsleistung nutzen.


Das geht aber nicht, wenn die Werte ideologisiert sind, denn dann geht es darum, die Ideologie zu erhalten, statt in die Welt zu schauen, um dort herauszufinden, welche Bedürfnisse vorliegen und wie es uns gelingen kann, eben diese Welt mit zu einem besseren Ort zu gestalten. Dabei sollten wir daran denken, dass auch mit diesem "Besser" immer ein "Schlechter" kommt.


Und so zeigt sich dann eben auch der werterorientierte Konflikt, wie er vor einigen Wochen von Harald Welzer [3] praktiziert wurde, als einfacher Symmetrischer Konflikt [4] einer Ideologie gegen eine andere, hier Postheroisch / Heroisch. Wobei übersehen wurde, dass Kriegsrhetorik nicht zwangsläufig ideologisch funktioniert, sondern oft einfach aus Verzweiflung, Entsetzen, bitterer Angst und existenzieller Not geboren wird – und dort eben auch wichtige Funktionen erfüllt, die wir nicht übersehen dürfen, sonst wird es unmenschlich.


KE: Den Gedanken hatte ich so noch nicht auf dem Schirm. Das finde ich wichtig, da auch hier wieder die Frage nach der Funktion einer Mitteilung ernst genommen wird. Denn stimmt, aus Verzweiflung und Angst würde ich auch nach Panzern rufen.


GP: Kriege sind Kommunikation - das wissen wir spätestens seit Clausewitz. Sie kommen mit eigener Rhetorik, mit eigenen Spielregeln und als Sozialsysteme spezifischer Art. Das verlangt Respekt vor ihren Logiken. [5]


Indem ich fordere, dass andere so zu denken, sprechen und handeln haben wie ich, bin ich bereits auf ideologischem Kurs. Da spielt keine Rolle, wie schön meine Werte klingen, ich bin dabei gleichzuschalten, und ich tue dies mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr zum Wohl der Welt, sondern, um meine eigenen Sicherheitsängste zu beruhigen.


KE: Da hast Du ebenfalls meine volle Zustimmung.


GP: Das Interessante nun aber am Miteinander ist, dass wir den anderen überhaupt erst an der Irritation erkennen, die wir empfinden, wenn er etwas tut, das uns überrascht. Solange das nicht passiert, sehe ich immer nur mich selbst.


Kann man meiner Argumentationslogik folgen?


Dann müssten wir jetzt 1+1 zusammen zählen können und erkennen, dass ich über soft values zwar mein eigenes Verhalten orientieren kann, ich aber in Schwierigkeiten komme, wenn ich anfange, das für andere zu versuchen.


Daher Freiheitsethik! Lassen wir den anderen selbst dann noch sprechen, wie ihm oder ihr der Schnabel gewachsen ist, wenn wir getriggert reagieren, solange niemandem sonst dadurch ernsthaft Schaden zugefügt wird. "Ernsthaft" deshalb, weil schwer für alle zu entscheiden ist, wer sich wann wie beleidigt fühlt.


KE: Auch hier völlig einig. Ich habe es bei uns im Portal so formuliert: [6]


GP: Großartig! Man könnte jetzt natürlich versuchen, so zu reden, dass sich möglichst niemand getriggert fühlt – allein, das ist nicht schaffbar, und wenn wir das versuchen, machen wir unser Denken zum Sklaven der möglichen Verschnupftheit auch noch des letzten denkbaren Gesprächspartners. Im Klartext: Dann können wir nichts Neues mehr sagen, denn es gibt zwei Dinge, die in der Regel zu Abwehrreaktionen führen: Einmal, wenn ich konditionierte innere Dialoge beim Anderen triggere und einmal, wenn ich etwas Neues sage, das an die konditionierte Lerngrenze des Anderen stößt.


Das ist das eine Problem mit fremdreferenzieller soft-value-Orientierung.


Das andere: Wer versucht so zu sprechen, dass möglichst die Meisten oder gar Alle ohne emotionale Abwehrreaktionen folgen können, kann bei einer Sprache ankommen, die nicht mehr erkennen lässt, ob uns die Menschen nun folgen, weil wir inhaltlich überzeugen oder weil wir so gut sprechen.


KE: Oh ja, das stimmt!


GP: Es geht um Pressionen: um den Teil unseres Mitteilungsverhaltens, das dafür sorgen soll, dass unser Kommunikationsangebot angenommen wird.


Und Pressionen sind nun einmal manipulativ.


Die Kommunikationssysteme, die dabei herauskommen, können kooperativ wirken. Ob sie allerdings inhaltlich funktionieren, steht auf einem ganz anderen Blatt. Der Stresstest muss erfolgen, um zu sehen, ob die Kommunikationspartner tatsächlich auch geschafft haben, die Freiheitsrechte Anderer zu respektieren, denn nur wenn das passiert, ist das Kooperationssystem resilient.


Das bedeutet: Die Beteiligten müssen außerdem gelernt haben, dass jeder Jeck anders tickt, jeder eine andere Sprache spricht und dass nicht jeder allen Werten folgen möchte. Eine alte Freundin hat in diesem Zusammenhang mal diesen schönen Satz gesagt: „Wenn man nicht ab und zu einen fahren lässt, mach man das Arschloch zum Boss!“ Und dieser Boss ... ist man manchmal selbst und das gerade dann, wenn die ganze Zeit aus falsch verstandenen Anpassungswerten heraus wahrhaftige Impulse unterdrückt werden.


Zu dieser menschlichen Problematik kommt noch etwas: soft-value-Orientierungen sind für Con-Artists gefundenes Fressen. Die Relativismen, die mit soft-value-Orientierungen kommen, öffnen trickbetrügerischer Kommunikation wie Sealioning Tür und Tor, da die Beteiligten ständig mit dem Gummimesser zur Schießerei gehen.


Wo alles wertschätzend und so gesagt werden muss, dass möglichst alle folgen, werden wichtige rhetorische Mittel aufgegeben. Es geht nicht nur Individualität verloren, sondern auch Fähigkeiten zu rationaler Argumentation, zu durchdringender Klarheit und zum konstruktiven Pogo-Tanz respektvoll Streitender – mit einem Respektbegriff, der für den Anderen größt mögliche Freiräume will. [7]


Putin-Russland und China zeigen uns deutlich die Grenzen von soft-value-Orientierung. Beide Länder haben nicht nur wenig mit menschenrechts-orientierter Kommunikation am Hut, sie nutzen diese unsere Haltung auch als Schwäche aus und verwenden sie gegen den Westen. Die Folgen davon sehen wir jetzt deutlich.


Wer das hier gut genug durchdenkt, dem muss auffallen, dass leider soft-value-Orientierungen in Unterdrückungssysteme auslaufen, die Menschen nicht mitnehmen, die direkt und klar sein möchten, die manchmal auch nicht anders können, die aus dem neurodiversen Spektrum kommen und solche, die wie ich aus ethischen Überlegungen heraus ablehnen, sich sprachdiktatorischen Erziehungssystemen zu unterwerfen und das nicht nur, weil ich damit unterdrückt werde, sondern, weil dadurch Andere unterdrückt werden.


Ist wichtig, möglichst klar und sachlich zu bleiben, wenn ich ein besonderes Anliegen habe und möchte, dass es gehört wird? Ohne Frage, doch in soft-value-Orientierungssystemen gilt „klar und sachlich“ oft als Affront.


Sollte ich daher eine Sprache wählen, die emotionale Bedürfnisse berücksichtigt? Das kann ich machen, wenn mir ein Ziel besonders wichtig ist, aber ich muss mir dabei einer weiteren Paradoxie bewusst sein:


Indem ich so spreche, dass ich möglichst wenig Gefühle verletze, gehe ich davon aus, dass Andere getriggert werden könnten und nehme ihre Trigger vorweg. Damit verlasse ich bewusst und absichtlich die Ebene von Kommunikation auf Augenhöhe für eine manipulative Sprache, die den Anderen dazu motivieren soll, mir inhaltlich zu folgen. Ob er das tun kann, kann ich aber dann nicht unbedingt erkennen, denn es ist wahrscheinlich, dass er folgt, weil ich gute Gefühle angeregt habe.


KE: Genau das ist so wichtig. Und gleichzeitig finde ich Dich hier ungenau. Du wirfst „emotionale Bedürfnisse berücksichtigen“ und symbiotische Anpassung in einen Topf. Ich kann sehr wohl klar und kontaktvoll sprechen. Das wirkt so, als ob sich das ausschließt.


GP: Okay, ich sehe, worauf Du hinaus willst. Nein, es schließt sich nicht aus. Ich muss nur wissen, dass meine Pressionen nicht darüber entscheiden, wie der andere reagiert, und wenn ich möglichst große Beziehungsräume offen halten will, wirkt die Antithese besser als der Versuch, mögliche Betroffenheit vorwegzunehmen. Es spricht nichts dagegen in Sachen Kommunikation kompetent zu sein – es gibt nur einen Unterschied zwischen Kommunikationskompetenz und Manipulations- oder gar Erziehungsversuchen ...


Breiter gefasst bleibt das Dilemma:


Es gibt hier keine einfachen Antworten, keine klaren Linien für alle denkbaren Situationen. Weshalb eine Freiheitsethik hier dann eben auch am besten funktioniert:


Ich lasse den Anderen wie er ist und lerne, auf Inhalte zu achten und meine eigenen Trigger Trigger sein zu lassen – sie sind meine Verantwortlichkeit, nicht seine. Wenn‘s mir zu wild wird, kann ich immer noch die Reißleine ziehen, aber ich kann lernen, sie immer weiter nach hinten zu legen, um die Freiräume anderer auszuhalten und um gemeinsame Freiräume für gemeinsame nachhaltige Kooperationsprojekte zu schaffen.


KE: Ich meine, es ist wichtig zu sehen, dass wir nicht nur sprachlich sondern auch als Säugetiere körpersprachlich, auditiv und kinästhetisch aneinander gekoppelt sind. Ängste wie Feindseligkeit stecken an. Sie sind höchst relevante Faktoren, die die Motivation zur Kooperation stark mitbestimmen. Klar kann ich über den Tonfall und Gestus eines vollkommen aufgebrachten Politikers hinwegsehen. Klar muss ich den Shut-Down-Ausdruck in Putins Gesicht für mich nicht handlungsleitend werden lassen. Das ist und bleibt meine Verantwortung und meine Freiheit. Gleichzeitig: Wenn ich das nicht zum Thema machen darf, sondern im Namen der Freiheit dem anderen sein „Agieren“ unbeeindruckt zu Gunsten vom Erhalt inhaltlicher Auseinandersetzung lasse, dann nehme ich mir und dem anderen die Freiheit und Möglichkeit auf den Mitteilungsaspekt seiner Kommunikation zu reagieren. Wenn aber jemand inhaltliche Standpunkte vertritt, weil er diese zur Selbststabilisierung braucht, ist der Spielraum für Kooperation massiv eingeschränkt. Es steht dann nicht zu erwarten, dass sich etwas ändert, weil es gar nicht um die Inhalte, sondern um deren Funktion für das psychische System geht.


GP: Daher ist eine gute Idee, hier zu unterscheiden, auf welcher Ebene wir was kommunizieren: Ich kann auf die Metaebene gehen und von dort her fragen, wie funktional die Pressionen sind, mit der eine Person seine/ihre Ideen zu kommunizieren versucht. Nicht jeder kann gleich gut mit starken emotionalen Reaktionen umgehen, nicht in allen Kontexten ist sinnvoll, den kommunikativen Pogo zu tanzen, manche sind davon einfach überfordert.


Indem Inhalts- und Beziehungsebene auseinander gehalten werden und getrennt diskutiert, helfen wir nicht nur uns selbst, sondern auch unseren Gesprächspartnern dabei, in unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichen Pressionen zurechtzukommen.


Dabei sollte aber darauf geachtet werden, dass die Beziehungsebene von der Metaebene her untersucht wird und nicht als Pression wiederum zur Abwertung der Sachebene fungiert.


Aus Freiheitsethik folgt nicht, dass Mitteilungsaspekte, also Pressionen, nicht diskutiert werden dürften – es geht nur darum, jedem erst einmal seinen Möglichkeits- und Irritationsraum zu erlauben, darüber mehr Menschen in die eigenen Möglichkeitsräume einzuladen, um dann dort in neuen, erweiterten Kontexten, die Frage nach der Funktionalität neu und ohne territoriale Grenzverletzungen zu stellen.


KE: Wenn ich auf das kommunikativ reagiere, was der andere sagt, ohne es zu wissen oder zu beabsichtigen, dann kann dies ein Ausdruck von Respekt und Ernstnehmen des anderen sein. So sehe ich es (meist). Menschen neigen zur Selbstabschottung. Das muss Thema werden dürfen, sonst sehe ich keine langfristige Kooperation. Denn dann bleibt am Ende meiner Abpufferungsfähigkeiten stressender Mitteilungen des anderen nur die Reißleine des Kontaktabbruchs.


GP: Ja. Hier kommen wir dann zu der sehr empfindlichen Frage persönlicher Konflikt- und Kommunikationskompetenzen.


Je besser jemand mit Komplexität umgehen kann, desto größer der Verhaltensspielraum und desto mehr Freiheit genießen die Gesprächspartner – man selbst aber noch nicht zwangsläufig.


Insofern darf Freiheitsethik nicht dazu verleiten zu versuchen, anderen zu verbieten, über Ton zu sprechen, sondern sollte dazu anregen, das Thema selbst zu besprechen, damit weitere Erkenntnisräume geöffnet werden können und mehr Menschen ein Gefühl dafür bekommen, welche Vorteile sie selbst daraus ziehen, wenn sie anderen erlauben, "frei Schnauze" zu reden.


Es kann also nicht darum gehen, Gespräche über Ton zu verbieten, sondern die Diskussion über Ton kritisch anzuregen, um darüber mehr Bewusstsein dafür zu ermöglichen, welche ideologischen Impulse damit losgetreten werden können – und das in bester Absicht.


Die Lösung des Problems liegt in der bereits benannten Metaebene.


KE: Verstehe ich. Wichtig ist nur: Ich halte es für illusionär, dass man die Resonanzen unseres limbisch-emotionalen Systems aus der Kommunikation heraushalten kann bzw. die eigenen aversiven, verstörten, isolierenden, verwirrten, gelangweilten, verführerischen u.v.a.m. Impulse kontrollieren kann. So wie viele Menschen spontan im Takt wippen, wenn sie Musik hören, fühlt man eben Bedrohung, wenn man in Putins Gesicht schaut. Und weil Steinmeier nicht ausgebildet war, seine Resonanz auf dieses Gesicht angemessen auszuwerten, hat er vermutlich zuviel Vertrauen investiert.


GP: Weshalb Versuche, über Ton zu regulieren, nicht funktionieren werden. Es muss erlaubt sein zu sprechen, wie man möchte, während gleichzeitig angeregt werden darf und oft auch sollte, zu respektieren, dass Menschen aversiv, verstört, isoliert, gelangweilt, verführerisch usw. agieren und reagieren. Wir sind Menschen, keine Automaten.


Eine Gesellschaft, die Tondiktatur – oder eben Tondiktaturverbote auszusprechen versucht, wird es nicht schaffen, kreativ-individuelle Impulse zu fördern.


Modelle wie diese funktionieren am besten mehrdimensional.


Aus "Tondiktatur ist keine gute Idee" kann nicht folgen, den eigenen Affekten freien Lauf zu lassen, unabhängig, was das mit anderen macht.


Umgekehrt kann daraus nicht folgen, überall zu versuchen seine Emotionen zu kontrollieren, denn nicht nur ist das nicht möglich: Es geht auch auf Kosten von Individualität, Kreativität, schöpferischen Miteinanders.


Wir müssen den Diskurs führen, und dafür brauchen wir Freiheitsethiken, die dazu anregen, es immer wieder ein bisschen besser zu machen und die vor allem die Freiheiten Anderer respektieren.


Das ist kein leichtes Unterfangen und keines mit einfachen Antworten. Aber es ist eines, das aus allen Eindimensionalitäten führen kann, solange wir im Gespräch bleiben.


 


Links


[1] https://t2informatik.de/blog/prozesse-methoden/wer-auf-vertrauen-setzt/


[2] https://www.klostermann.de/Peirce-Charles-S-Ueber-die-Klarheit-unserer-Gedanken


[3] https://www.stern.de/plus/gesellschaft/ukraine-krieg---harald-welzer---nirgends-hoert-man--moment-mal---31701534.html


https://www.stern.de/politik/ausland/ukraine-krieg--eine-replik-auf-den-kommentar-von-harald-welzer-31719244.html


[4] https://www.carl-auer.de/magazin/systemzeit/konfliktdynamiken-mit-selfis-untersuchen


[5] https://www.carl-auer.de/magazin/systemzeit/konflikte-wenn-systeme-sich-bilden


[6] https://metatheorie-der-veraenderung.info/wpmtags/beziehungsverklammerung/


[7] https://www.youtube.com/watch?v=3Ne6SISWwhY