Interkulturalität

engl. interculturality, franz. interculturalité f, von lat. inter = »zwischen«, cultura = »Bearbeitung, Pflege, Ackerbau«. Der Terminus Interkulturalität (IK) hat sich im deutschsprachigen Fachjargon seit Anfang des 21. Jh. durchgesetzt. Er bezeichnet zentral personale Fähigkeiten, die es erlauben, international und in einer multikulturell (Kultur) verfassten Gesellschaft effizient (Wirtschaft) und konstruktiv (soziale, pädagogische, institutionelle und alltägliche [Alltag] Kontexte) kommunizieren und handeln zu können. Interkulturelles Lernen wird als lebenslanger Prozess verstanden, wobei insbesondere interkultureller Bildung inzwischen eine Schlüsselrolle im Kompetenzkanon zugeschrieben wird. Mit Interkulturalität bzw. mit interkulturellen Prozessen verbundene Merkmale, Bedeutungs- und Sinnhorizonte sind jeweils im nationalen, geschichtlichen und politischen Kontext zu lesen. Im westlichen, modernen Nationalstaat wird die Unterscheidung Kultur als relevant gesetzt, obwohl – oder gerade, weil – die Staatsgemeinschaft demokratische Prinzipien (im Geist der Französischen Revolution: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«) als Referenzrahmen zugrunde legt, aber im Staatssystem (System) Ein- und Ausschlusskriterien für Bürger bzw. Nichtbürger im Staatsterritorium definieren muss. Angesichts der Kolonialgeschichten der westlichen europäischen Staaten sowie folgend der Globalisierung und der damit verbundenen vielschichtigen Wanderungsbewegungen erfährt die Differenz »Kultur« eine Renaissance, wodurch der Staat bei der Ausübung seiner Pflichten die bodenständigen, angestammten Bürger (Autochthone) von den zugewanderten Allochthonen bzgl. Sicherheit, Zugang zu Ressourcen inkl. der Einklagbarkeit von verbrieften Rechten unterscheiden kann (Nassehi 1997, S. 177–208).


Ab den 1960er-Jahren prägen die Begriffe »transcultural« bzw. »cross-cultural« (USA, UK) und ab den 1980er-Jahren der Begriff »interculturelle« (Frankreich, Benelux, Skandinavien) wirtschafts-, sozial- und erziehungswissenschaftliche Diskurse. Im Vordergrund steht das transkulturell erfolgreiche, wirtschaftliche Handeln (International Management). Als erster cross-cultural researcher bezeichnet der Anthropologe Eduard T. Hall 1960 in der Harvard Business Review Kultur als »The silent language in overseas business«. Der Niederländer Geert Hofstede arbeitet in einer IBM-Studie (1967–1972) verschiedene für die Arbeitsorganisation relevante Kulturdimensionen heraus. Das Wissen um die kulturbedingten Differenzen zielt auf höhere Effizienz in internationalen Kooperationen. Ab den 1980er-Jahren sind Diskurse zur Interkulturalität in gesamtgesellschaftlichen, sozial- und bildungspolitischen Kontexten zu verzeichnen – angestoßen durch die Herausforderung, die Kohäsion der Gesellschaften angesichts der als kulturell »anders« wahrgenommenen Minderheiten und Zuwanderungsgruppen zu sichern und die Minderheiten zu integrieren. Die Forderung nach interkulturellem Denken und Handeln soll die als gescheitert angesehenen Politiken ablösen – wie den Multikulturalismus und Melting-Pot-Ideologie (USA, NL), die »ethnische Sensibilisierung« der Mehrheitsangehörigen für die Bedürfnisse der Minderheiten (UK) sowie Integrationskonzepte, die auf einem streng universal-egalitären Staatsverständnis (Frankreich) basieren und letztlich auf Assimilation zielen. Politiken in der BRD sind von Diskursen um die Leitkultur und der Leugnung, ein Einwanderungsland zu sein, geprägt (Minzel 1997, S. 409–488). Interkulturalität und interkulturelle Kompetenz rekurrieren bis heute auf die universalen Menschenrechte unter Berücksichtigung der individuellen (Individuum) und gruppenbezogenen Freiheits- und Gleichstellungsrechte – so wie diese im Diskurs über diversity (Identität und Lebensentwürfe) bei gleichzeitiger equality (= uneingeschränktem Zugang zu Ressourcen und voller gesellschaftlicher Teilhabemöglichkeiten) thematisiert werden (vgl. Prengel 1993).


Interkulturalität bezeichnet im Kern die interkulturelle Kommunikationsfähigkeit, die in der Kommunikation zwischen Vertretern und Vertreterinnen verschiedener Kulturen oder Gruppen erzielt wird, wobei nach dem dialogischen Prinzip in der Beziehung von ICH und DU (Martin Buber) sowohl die Bewusstheit der eigenen kulturbedingten Wahrnehmungs-, Denk-, Bewertungs- und Handlungsweisen vergrößert als auch das kulturelle Orientierungssystem des Gegenübers nachvollziehbar werden. Interkulturelle Kommunikation hat den Anspruch, über eine transkulturelle Kommunikation hinauszugehen, nämlich entsprechend des Präfixes »inter-» einen (Zwischen-) Raum zu erschaffen, in dem erweiterte, neue Bezugnahmen und Qualitäten entstehen sollen. Im Spannungsfeld zwischen individuellen Freiheiten und gesellschaftlicher Teilhabe bezieht Interkulturalität strukturelle und soziale Benachteiligungen der kulturell definierten Minderheiten, Ressourcenzugangsbarrieren sowie den Dominanzanspruch der Mehrheitskultur in ihre Überlegungen ein. Daher wird Respekt als unabdingbare Haltung und die Entwicklung einer »Kultur der Anerkennung« (Charles Taylor) gefordert. »Anti-oppressive« (UK) und antidiskriminierende Konzepte können Elemente der interkulturellen Lern- und Bildungspraxis sein.


Im systemisch-konstruktivistischen Verständnis (Konstruktivismus) treffen im interkulturellen Dialog verschiedene Systeme der kommunizierenden Personen aufeinander – mit der Möglichkeit, Anschlüsse zu finden, Aspekte in die je eigenen Systeme (Wahrnehmen, Denken, Sinnhorizonte, Handeln etc.) aufzunehmen und veränderte Wirklichkeiten (in der Unterscheidungspraxis und in der Gestaltung der Beziehung zwischen Mehr- und Minderheiten oder zwischen verschiedenen Minderheiten) zu erschaffen. Aufgrund der prinzipiellen Abgeschlossenheit sinnhafter Systeme (Sinn) lassen sich jedoch weder Anschlüsse instruieren noch spezifische Qualitäten der Veränderungen vorbestimmen. Stereotype, Vorurteile und Ethnozentrismen können sich verändern – mildernd oder verstärkend. Grenzziehungen können sich – inklusionsfördernd (Inklusion) oder exklusionsstabilisierend (Exklusion) verändern. Die mit dem Konzept von Interkulturalität verbundene Forderung nach Respekt und Anerkennung findet schwer Anschlüsse an die verschiedenen Funktionssysteme der Gesellschaft. Der letztlich enthaltene Anspruch, Anderskulturelle zu integrieren, d. h., aus Vielfalt wieder ein Ganzes herzustellen, liegt quer zu den Notwendigkeiten von Flexibilität und Hybridität in funktional differenzierten Gesellschaften. Gesellschaftsmitglieder müssen zu den verschiedenen existenziellen Funktionssystemen gleichzeitig Zugang haben und verschiedene Kodizes beherrschen, um agieren zu können (Krönchen 2010). Interkulturelle Ansätze bleiben überwiegend selbstreferenziell (Selbstreferenz) und laufen Gefahr, dem selbst gesetzten Anspruch nicht zu genügen. Kultur muss als Leitdifferenz selbst durch eine Beobachtung 2. Ordnung in den Blick genommen werden. Problematisch sind primordiale (uranfängliche, soziobiologische) Annahmen ethischer Prägung (van den Berghe). Systemisch eher anschlussfähig ist das Konzept der Zuschreibung und Selbstzuschreibung (Frederik Barth), wodurch sinnstiftende Systeme entstehen. Unhinterfragt bleibt auch das WIE der Konstruktion des »Fremden«.


Die wissenschaftliche Kritik der Interkulturalitätstheorien/-ansätze beginnt bereits in den 1990ern. Aktuell versuchen Interkulturalität Vertreter und Vertreterinnen die Schwächen der interkulturellen Denk- und Arbeitskonstrukte zu überwinden und verfolgen die Vision eines sustainable glocal relationship building (Bolten 2020). Aus Sicht der postkolonialen Kritik – z. B. seit 1980 Homi Bhabha, Robert Miles, Stuart Hall – leistet Interkulturalität der Entpolitisierung sozialer Verhältnisse und der Blindheit für den Ursprung hegemonialer Machtverhältnisse Vorschub. Westliche Gesellschaftsverhältnisse/-ordnungen werden dementgegen vor dem Hintergrund kolonialer Geschichte betrachtet, wobei gesellschaftliche Normen auf kolonialer Erfahrungen – der Unterwerfung der Regionen der Welt – fußen. Im aktuellen transnationalen Kapitalismus (und der vielschichtigen Arbeitsmigration) können die »kulturell Entorteten« und »sozial Diskriminierten« zu gesellschaftlichen Akteuren werden. Kulturelle Ordnungsmuster und Dominanzverhältnisse sind offen zu legen. Konzeptionell zentral sind der (postkoloniale) Perspektivenwechsel und damit verbundene aufdeckende und widerständige Diskurse (Messerschmidt 2003).


Paul Mecheril setzt der Interkulturalität den Begriff der »natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit« entgegen, um eine Essentialisierung kultureller Zugehörigkeiten und die »Fest-Stellung« des Anderen sowie die Rassenkonstruktion »Kultur« zu überwinden. Im Fokus stehen insbesondere Bildungsinstitutionen und pädagogische Praxen – Orte der Differenzkonstruktionen –, wie sie diese natio-ethno-kulturelle Ordnung (re)produzieren. Ziel ist es Ungleichheitsstellungen und -dynamiken zu unterbrechen (Karakasoglu, Mecheril u. Goddar 2019). Angesichts der Gleichzeitigkeit von Globalisierung und lokaler Diversifizierung versuchen postmigrantische Diskurse die aktuellen globalen, nationalen und lokalen gesellschaftlichen Lebenswirklichkeiten bearbeitbar zu machen. »Postmigrantisch« ist nicht chronologisch zu verstehen, verlässt die Leitdifferenz von Migrantinnen und Migranten vs. Nicht-Migrantinnen und -Migranten und nimmt stattdessen die Vielfältigkeit und Differenzierung aller Gesellschaftsmitglieder wahr: Die Vielfalt sozialer Kontexte und die Realität der Mehrfachzugehörigkeiten führen zu einem Bild der »atonale Ensembles« (Edward Said), Alltagswirklichkeiten sind von Vielfalt, Mehrdeutigkeit(en) und Widersprüchen geprägt. Postmigrantische Perspektiven markieren eine mögliche epistemologische Wende – die Abwendung von alten Denkmustern (Differenz: Migrant/Migrantin ⟷ Nicht-Migrant/-Migrantin, Sesshaftigkeit, usw.) und stellen offene Konzepte der Betrachtung gesellschaftlicher Wirklichkeiten im Konglomerat von Mobilität und Diversität dar. Brüche, Marginalisierungen, Mehrdeutigkeiten u. v. m. werden sichtbar. Es geht um Aushandlungen fundamentaler Rechte, um Zugänge, Zugehörigkeiten und so auch um Konstruktionen (hybrider) Identitäten (Hill u. Yildiz 2018). Systemisches Arbeiten findet viele Anschlussmöglichkeiten: Zentrale Phänomene können als (Leit-)Differenzen der Beobachtung 2. Ordnung verstanden werden. Erzählungen der verschiedensten Akteure finden Gehör und potenzielle Anschlüsse an andere Geschichten oder Systeme emergieren. Systemische Kreativität fördert widerständige Erzählungen und Operationsweisen. Im sozial- und bildungspolitischen Bezug können die diversen Systeme, ihre Operationsmodi und strukturellen Kopplungen einer Beschreibung 3. Ordnung unterzogen werden. Wie findet Differentes und Nichtdifferentes Anschluss an die verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssysteme? Wie wird die Geschichte, wie werden die differenten und identitären Geschichten erzählt und wo finden sie Anschlüsse? Welche neuen Ko-Konstruktionen kommen in den Blick und wird unsere globale Geschichte weitergeschrieben?


Verwendete Literatur


Bolten Jürgen (2020): Interkulturalität neu denken: Strukturprozessuale Perspektiven. In: Hans W. Giessen u. Christian Rink (Hrsg.): Migration, Diversität und kulturelle Identitäten. Berlin (J. B. Metzler).


Hill, Marc u. Erol Yildiz (Hrsg.) (2018): Postmigrantische Visionen, Erfahrungen – Ideen – Reflexionen. Bielefeld (transcript).


Karakasoglu, Yasemin, Paul Mecheril u. Jeannette Goddar (2019): Pädagogik neu denken! Die Migrationsgesellschaft und ihre Lehrer_innen. Weinheim (Beltz)


Krönchen, Sabine (2010): Vielfalt & Inklusion. Zentrale Herausforderungen für Wissenschaft, Profession und Praxis. In: dies. (Hrsg.): Vielfalt & Inklusion. Herausforderungen an die Praxis und die Ausbildung in der Sozialen Arbeit und der Kulturpädagogik. Mönchengladbach (Hochschule Niederrhein), S. 11–27.


Messerschmidt, Astrid (2003): Postkoloniale Kritik und das Erbe der interkulturellen Versprechen. Forum erwachsenenbildung 4: 16–18.


Minzel, Alf (1997): Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika. Konzepte, Streitfragen, Analysen, Befunde. Passau (Rothe).


Nassehi, Armin (1997): Das stahlharte Gehäuse der Zugehörigkeit. In: ders. (Hrsg.): Nation, Ethnie, Minderheit. Köln/Weimar/Wien (Böhlau).


Prengel, Annedore (1993): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen (Leske + Budrich).


Weiterführende Literatur


Bauman, Zygmunt (1992): Moderne und Ambivalenz. Hamburg (Junius).


Bauman, Zygmunt u. Peter Haffner (2017): Das Vertraute unvertraut machen. Hamburg (Hoffmann & Campe)


Castro Varela, María do Mar u. Nikita Dhawan (2005): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld (transcript), 2., vollst. überarb. u. erw. Aufl. 2015.


Miller, David (2017): Fremde in unserer Mitte. Politische Philosophie der Einwanderung. Frankfurt a. M. (Suhrkamp)


Nicklas, Hans, Burkhard Müller u. Hagen Kordes (2006): Interkulturell denken und handeln. Frankfurt a. M./New York (Campus).