Polykontexturalität

engl. poly-contexturality. Polykontexturalität meint die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher logischer Räume in einer Situation wie auch situationsübergreifend.


Die polykontexturale Logik wurde von Gotthard Günther entwickelt, um der Vorstellung unterschiedlicher Beobachtungspositionen gerecht zu werden (Günther 1978, S. 10 ff.). Die klassische Logik unterscheidet nur zwischen »wahr« und »falsch«. Ein Drittes wird ausgeschlossen (tertium non datur). Verschiedene Beobachterpositionen kann die klassische Logik somit nicht angemessen abbilden, da etwas nicht »anders« und dennoch »wahr« sein kann. Günther stellt dieser Vorstellung einer zweiwertigen Welt die Idee der Polykontexturalität gegenüber. Es gibt, so Günther, verschiedene logische Räume (Raum), die ihr eigenes »wahr« und »falsch« kennen. Günther nennt diese Kontexturen. Anders als der Begriff des Kontexts, der den Rahmen einer Handlung oder eines Gedankens meint, ist der Begriff »Kontextur« rein formallogisch gedacht. Er bezeichnet die Einheit eines logischen Raumes innerhalb dessen zwischen Sein und Nicht-Sein unterschieden wird und nicht den Rahmen einer Handlung oder eines Gedankens. Im systemischen Denken wurde die Idee der Polykontexturalität vor allem von Niklas Luhmann aufgegriffen. Luhmann versteht die Gesellschaft als funktional (Funktion) differenziert. Jedes Funktionssystem operiert innerhalb eines jeweils eigenen Codes, Günther würde sagen: einer eigenen Kontextur. So unterscheidet etwa die Wirtschaft zwischen »Zahlung« und »Nicht-Zahlung« (Luhmann 1988). Sie funktioniert mono-kontextural, während die Gesellschaft als umfassendes System verschiedene Codes verarbeitet. Die Gesellschaft kann zwischen wissenschaftlicher Wahrheit, Macht und Zahlungen unterscheiden. Sie operiert polykontextural.


Günthers Verständnis von Polykontexturalität geht jedoch über die gesellschaftstheoretische Anwendung durch Luhmann hinaus. Als formale Logik ist sie grundlegender als Luhmanns Gesellschaftstheorie. So kann eine Kontextur auch die Perspektive einer einzelnen Person auf einen Sachverhalt meinen oder den Umstand, dass etwas sowohl eine Form als auch eine Farbe hat.


Zentral ist bei Günther die Vorstellung eines »reflexiven Rests« (Günther 1976). Dieser meint, dass jede Kontextur schon immer über sich hinaus weist. Nach Günther liegt in jeder Kontextur eine potenziell unendliche Kaskade weiterer Kontexturen verborgen, da jede Beobachterposition (Beobachtung) nur von einer Position außerhalb ihrer selbst beobachtet werden kann. Dies führt zu einer Vorstellung von Welt, in der immer vieles gleichzeitig und widersprüchlich ist. Nie befinden wir uns in nur einem System. Jede Situation ist mehrwertig.


Praktisch verweist die Idee der Polykontexturalität auf die Mehrwertigkeit jeder Situation.


So ist beispielsweise jeder Fall in der Sozialen Arbeit, aber auch jeder Patient und jede Patientin in der Therapie, sowohl ein ökonomischer wie auch ein medizinischer und rechtlicher Sachverhalt. Darüber hinaus ist er bestimmt durch Reflexionsperspektiven der Familie wie auch anderer Systeme und Akteure.


Entsprechend der Vorstellung der Polykontexturaliät ermöglicht jede Kontextur Handlungsmöglichkeiten. Gleichzeitig schränkt sie diese ein. Der wirtschaftliche Rahmen etwa stellt so Ressourcen zur Verfügung, die jedoch gleichzeitig knapp sind. Die Unterschiede zwischen Kontexturen führen so immer wieder zu Konflikten und Missverständnissen, da innerhalb einer Kontextur angeraten und machbar erscheint, was innerhalb einer anderen unmöglich oder widersinnig ist. Polykontexturalität erinnert somit an die Bedeutung von Kontext- und Auftragsklärung. Sie lässt uns verstehen, warum wir es gerade unter den organisierten Bedingungen der Sozialen Arbeit, Beratung und/oder Therapie stets mit einer Vielzahl unterschiedlicher Erwartungen und Funktionslogiken zu tun haben.


Auf einer allgemeineren Ebene erlaubt die Idee der Polykontexturalität ein tieferes Verständnis von Techniken wie der Teilearbeit, Reframing oder dem zirkulären Fragen (Zirkuläres Fragen). Systemisches Arbeiten hat es nicht nur mit verschiedenen Beobachtern zu tun. Vielmehr ist jeder Beobachter schon immer eine Pluralität und jede Beobachtung schon immer mehrfach codiert. Die Mehrwertigkeit gilt es methodisch zu erschließen und auf ihre Chancen und Grenzen hin auszuloten.


Verwendete Literatur


Günther, G. (1976): Metaphysik, Logik und die Theorie der Reflexion. In: ders. (Hrsg.): Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 1. Hamburg (Meiner), S. 31–74.


Günther, G. (1978): Idee und Grundriss einer nicht-Aristotelischen Logik. Hamburg (Meiner).


Günther, G. (1979): Life as Poly-Contexturality. In: ders. (Hrsg.): Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 2. Hamburg (Meiner), S. 283–307.


Luhmann, N. (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).