Steve de Shazer, die Wunderfrage und der richtige Dreh

Am 25. Juni 2020 wäre Steve de Shazer 80 Jahre alt geworden. Er verstarb im September 2005 in Wien, wo er sich im Rahmen einer seiner vielen Vortrags- und Seminarreisen aufgehalten hatte, plötzlich und unerwartet an einer Lungenentzündung. Nicht nur in seinen in immer neuen Auflagen erscheinenden Büchern lebt weiter, was durch Steve de Shazer in die Welt kam, sondern in der Arbeit vieler TherapeutInnen und BeraterInnen sowie der KlientInnen, die sich als selbstwirksam erfahren können und erleben, wie Glück sein kann. Der Einfluss und die Wirkung des lösungs- und ressourcenorientierten Ansatzes von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg waren enorm und sind es bis heute. Allein die viel zitierte Wunderfrage, ein Herzstück lösungsorientierten und systemischen Arbeitens und in unzählige Ansätze integriert, zählt zu den zentralen Arbeitsbeschreibungen und ist in therapeutischen Ausbildungen omnipräsent: „Angenommen, während du schläfst, geschieht ein Wunder und dein Problem ist gelöst. Woran würdest du das am nächsten Morgen bemerken?“ Paul Watzlawick, bei dem Steve de Shazer unter anderem gelernt hat, hatte diese Frage in anderer Form bereits verwendet. Sie erfährt immer neue und kreative Modifizierungen und Konkretisierungen in der praktischen Anwendung. Beispielsweise in der Arbeit mit Systemaufstellungen, wie sie von Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer entwickelt wurde.


Ganze Weiterbildungs-Curricula beziehen sich auf den Ansatz, der vom Brief Therapy Center in Milwaukee, das Steve de Shazer und Insoo Kim Berg gegründet hatten, seinen Ausgang genommen hatte. Das gilt für das "Ich-schaffs!"-Programm von Ben Furman genauso wie für das hypnosystemische Modell von Gunther Schmidt, die beide lösungsorientierten Ideen verpflichtet sind und gleichfalls viele erfolgreiche AnwenderInnen gefunden haben. Im lösungsorientierten Ansatz geht es im Kern darum, sich nicht lange damit aufzuhalten, Ursachen für Probleme zu eruieren, die in aktuelle Schwierigkeiten, das Leben zu meistern, geführt haben, sondern den Dreh zu finden: Richte den Blick in die Zukunft und darauf, welche eigenen Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten da sind, Probleme in Lösungen zu verwandeln – oder gar Probleme schon als Lösungsversuche zu verstehen und zu würdigen, die noch nicht da angekommen sind, von wo es wirklich gut weitergehen kann. Man könnte es als eine Art Entmachtung des Problemerlebens bezeichnen, das sich besonders dann dauernd neu einstellt, wenn man seine Aufmerksamkeit auf vermutete Ursachen fokussiert, was eben dazu führen kann, im Problemerleben zu verharren.


Steve de Shazers Bezüge zu bedeutenden Philosophen des 20. Jahrhunderts – wie Gregory Bateson, Jaques Derrida, Ernst von Glasersfeld, George H. Mead, Thomas S. Kuhn, Jean-Francois Lyotard, Bertrand Russell, George Spencer-Brown, Alfred North Whitehead, Ludwig Wittgenstein u. v. a. – bezeichnen die enorme Reflexionstiefe seines Arbeitens. Sie ist der Leichtigkeit, wie er und Insoo Kim Berg diese praktisch umgesetzt haben, besonders zu Gute gekommen. Ein wichtiger Einfluss kommt auch, wie Steve de Shazer immer wieder betont, aus der Arbeit von Milton H. Erickson. Trance-Induktionen, Yes-Set, Utilisation spielen eine bedeutende Rolle.


In seinem Vorwort zu Das Spiel mit Unterschieden, dem philosophischsten Werk Steve de Shazers, schließt Helm Stierlin mit den Worten: „Am Ende des Buches macht sich Steve de Shazer Gedanken darüber, ob das darin von ihm vorgestellte Modell eines interaktionellen Konstruktivismus für einige Leser nicht zu radikal oder zu schockierend sein könnte. (...) Mich ließ es indessen an eine Tagebucheintragung Nietzsches denken, die mich zeitlebens beeindruckt hat: ‚Ein sehr verbreiteter Irrtum: Den Mut der Überzeugung haben; es kommt vielmehr auf den Mut zum Angriff auf die eigene Überzeugung an.‘ Ich halte es für ein großes Verdienst dieses Buches, daß es uns einlädt, den Mut zum Angriff auf eigene Überzeugungen aufzubringen.“


Ohne zu übertreiben darf man sagen: Das ist gelungen.