Autopoiesis

engl. autopoiesis, franz. autopoiesis f, von griech. autos und poiesis = »Selbstherstellung«; bedeutet die Hervorbringung von etwas als Werk seiner selbst, die Produktion eines lebenden Systems aus dem Netzwerk der Elemente, aus denen es besteht.


»Wir behaupten, dass es Systeme gibt, deren Einheit als Netzwerk der Produktion von Komponenten definiert ist, die (1) rekursiv, das heißt durch ihre Interaktionen [Interaktion], das Netzwerk generieren und realisieren, das sie produziert, und (2) im Raum, in dem sie existieren, die Grenzen dieses Netzwerks als Komponenten konstituieren, die an der Realisierung des Netzwerks teilnehmen. Solche Systeme haben wir autopoietische Systeme genannt und die Organisation, die sie als Einheit im Raum ihrer Komponenten definiert, autopoietische Organisation« (Maturana 1981, p. 21f.; Übers.: D. B.).


Der Begriff der Autopoiesis hat in der Systemtheorie seine eigene Geschichte. Initiiert durch die beiden Neurophysiologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela (Maturana u. Varela 1980), wurde er als Beschreibung operationaler Schließung in die Kybernetik zweiter Ordnung integriert (von Foerster 1993), von der Soziologie als Paradigma der Entfaltung selbstreferenzieller (Selbstreferenz) Rückbezüglichkeit interpretiert (Morin 1977–2001; Luhmann 1984) und schließlich für das Verständnis von sowohl psychischen (Psyche) als auch von Sozialsystemen (Sozialsystem) ausgearbeitet (Luhmann 1985, 1990). Der Begriff fasziniert, weil er es erlaubt, die Beobachtung des hochgradigen Raffinements der Reproduktion eines Systems in seiner Umwelt (»Nische«) mit der Beobachtung der Blindheit dieses Systems für alles andere zu kombinieren. Die Rezeption des Begriffs außerhalb der Biologie ist jedoch umstritten. Die Autoren des Konzepts verweigern eine Übertragung des Begriffs auf andere als lebende Systeme. Soziologen bezweifeln die Tauglichkeit biologischer Begriffe für das Verständnis soziologischer Problemstellungen.


Begründet wird die Rezeption nicht mit einem analogischen, sondern mit einem paradigmatischen Vorgehen. Der Begriff der Autopoiesis wird auf der Ebene einer Theorie kognitiver, weil selbstreferenzieller und operational geschlossener Systeme verallgemeinert und von dort aus für die Zwecke der Beschreibung sozialer und psychischer Systeme respezifiziert. Dabei werden aus den körperlichen (Körper) Grenzen lebender Systeme die Sinngrenzen psychischer und sozialer Systeme und aus den Komponenten lebender Systeme die Elementarereignisse psychischer und sozialer Systeme. Unter Rückgriff auf eine allgemeine Systemtheorie, insbesondere die Kybernetik zweiter Ordnung, die sich mit komplexen Steuerungsproblemen beschäftigt, werden psychische und Sozialsysteme nichtlinear und temporal konzipiert. Eine umgekehrte Rezeption der Begriffe der allgemeinen Systemtheorie sowie der Theorie sozialer und psychischer Systeme in der Biologie fand bisher nicht statt. Allerdings hat die Rezeption des Autopoiesisbegriffs außerhalb der Biologie bisher nur mit zwei Dritteln des Begriffs gearbeitet. Man hat den Begriff der Komponenten des Systems zum Begriff der Elemente und Operationen des Systems erweitert, und man hat den Begriff der Grenze des Systems als Komponente beziehungsweise Element des Systems übernommen, dabei jedoch zu wenig Augenmerk auf den Begriff des Netzwerks verwendet, der in der oben zitierten Definition des Begriffs Autopoiesis ebenfalls eine wesentliche Rolle spielt. Der Netzwerkbegriff hat die interessante Eigenschaft, dass er die selbstreferenziell geschlossene autopoietische »Organisation« auf der einen Seite und die »Strukturen« auf der anderen Seite, in denen sich diese Organisation realisiert und materialisiert, übergreift (Maturana 1994). Die Autopoiesis eines Systems beschreibt dann seine operativ geschlossene Reproduktion im Medium einer selektiv wahrgenommenen und zugeschnittenen offenen Welt, die die Energie und die Materie vorhält, auf die die Reproduktion des Systems thermodynamisch zurückgreifen können muss.


Die systemische Praxis rechnet mit allen drei Komponenten des Begriffs der Autopoiesis, mit der rekursiven Schließung, mit der Grenzziehung und mit dem Netzwerk der Selbstreproduktion im Medium von Strukturen, die das System mit seiner Umwelt teilt. Denn nur diese Strukturen können durch Intervention und Irritation variiert werden. Und auch sie können nur variiert werden, ohne dass für das Gelingen der Variation und die Anregung einer sich konfigurierenden Anschlussorganisation eine Garantie abgeben zu können. Die Selbstreferenz und die Grenzziehung des autopoietischen Systems bleiben unverfügbar. Immerhin jedoch bietet der Begriff des Netzwerks genügend Anhaltspunkte dafür, die systemische Praxis der Beratung und Therapie mit einer Beschreibung des Gegenstands wie der Strukturen, innerhalb derer die Interaktion mit dem Gegenstand stattfinden soll, auszustatten. Die Proteinstruktur lebender Systeme, die attentionale und intentionale Struktur psychischer Systeme, die institutionelle Struktur sozialer Systeme sowie, demnächst, die sensomotorische Struktur künstlicher Intelligenz können je unterschiedlich dafür genutzt werden, Diagnosen zu überprüfen und Anregungen zu platzieren. Wesentlich ist in jedem einzelnen Fall das Verständnis der Intervention als einer Variation im Netzwerk der Reproduktion des Systems. Die Reichweite der Variation im Netzwerk hängt davon ab, welches Profil diese Variation als ein neues Element des Netzwerks gewinnt, d. h., welche Anschlüsse dieses Element anregt beziehungsweise welche Maßnahmen der Neutralisierung und Isolation es auf den Plan ruft. Im Netzwerk sind alle Elemente mit allen Elementen rekursiv verknüpft. Jedes Element kann damit nur diejenigen Anschlüsse organisieren, die den eigenen Anschluss an andere Elemente nicht gefährden. Genau das bezeichnet der von Maturana und Varela angebotene Begriff des strukturdeterminierten Systems (Maturana u. Varela 1980): Innerhalb der Strukturen des Systems ist alles Mögliche möglich, aber es ist eben nur innerhalb dieser Strukturen möglich. Jedes neue Element bewährt sich entweder innerhalb einer solchen Struktur, oder es wird abgewehrt und vergessen.


Die systemische Praxis der Intervention, Beratung und Therapie findet daher immer in einem evolutionären Rahmen statt. Sie platziert Variationen, überprüft damit mögliche Auswahlmuster, lernt durch Selbstbeobachtung und muss letztlich abwarten, ob dem System, das den systemischen Praktiker einschließt (Inklusion) und wieder ausschließt (Exklusion), nach der positiven oder negativen Auswahl einer Variation eine Restabilisierung gelingt, die es befähigt, sich weiterhin zu reproduzieren.


Verwendete Literatur


Foerster, Heinz von (1993): Wissen und Gewissen – Versuch einer Brücke. (Hrsg. von Siegfried J. Schmidt.) Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Luhmann, Niklas (1985): Die Autopoiesis des Bewußtseins. Soziale Welt 36: 402–446.


Luhmann, Niklas (1990): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Maturana, Humberto R. (1981): Autopoiesis. In: Milan Zeleny (Hrsg.): Autopoiesis: A theory of living organizations. New York (North-Holland), pp. 21–32.


Maturana, Humberto R. (1994): Was ist Erkennen? München (Piper).


Maturana, Humberto R. u. Francisco J. Varela (1980): Autopoiesis and cognition: The realization of the living. Dordrecht (Reidel).


Morin, Edgar (1977–2001): La méthode. Vol. 1–5. Paris (de Seuil).


Weiterführende Literatur


Maturana, Humberto R. (2000): Biologie der Realität. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).